So oder so ähnlich. Aber nicht anders (Langfassung).

Haftungsausschluss: Die Langfassung könnte sehr lang werden, denn es ist das Recht der Debütantin, sich an ALLES genau erinnern zu wollen – wen das langweilt: einfach woanders weiterlesen.

Die Aufregung erreicht schon eine Woche vorher einen Höhepunkt mit dem hypochondrischen Knie. Als am Donnerstag ein kleines Testläufchen ziemlich katastrophal mit Knie nach 5km endet, werde ich leicht panisch. Im Treppenhaus treffe ich meine ältere Nachbarin, die immer, wenn sie mich in Laufsachen sieht, ruft (man stelle sich eine leicht piepsige Stimme vor): „Ach da ist ja unsere Sportlerin!“ Und weil die Berlinerinnen und Berliner ja sehr gut über ihren Marathon Bescheid wissen, fügt sie hinzu: „Jetzt sagen Sie aber nicht, dass sie am Sonntag mitlaufen!“ Ich – etwas trotzig: „Doch, doch, das habe ich vor.“ (Selbsthypnose vom Feinsten!) Die Nachbarin: „Na, da passen Sie mal schön auf, dass Sie vor dem Besenwagen ankommen“. Das Berliner Publikum hat eben auch das Fachvokabular drauf.

Am Freitag habe ich noch einen Termin beim Physio. Der diagnostiziert eine Blockade, fragt, ob ich umgeknickt sei, knetet an mir rum und klebt blaues Tape – einen kleinen Streifen außen aufs Knie, einen auf den Bauch und zwei Streifen und ein kleines V auf den unteren Rücken. Sehr schick. Das wichtigste: er befindet, ich könne laufen, na bitte, das wollte ich doch hören.

Samstag, Villa Kreuzberg, Jogmaptreffen. Das ist wieder sehr schön! Es macht großen Spaß, mitzuerleben, wie es anderen geht, essen, trinken, lachen – und ganz viele gute Ratschläge „fürs erste Mal“ zu bekommen. Diese sind mir besonders wichtig: Tame erklärt mir erstens, wie der Schwamm funktioniert (ja, lacht nur!), dass der sich unter der Mütze bei Hitze ganz prima macht, und zweitens versichert sie mir, dass auch Frauen an der Strecke ausreichend Grünanlagen finden, wenn gerade kein Dixie zur Hand ist. Danke Tame, beides war hilfreich. Schalk berät zu Versorgungsfragen unterwegs (und ist überhaupt ganz zauberhaft ermutigend), und als ich ganz am Schluss Henry gegenüber flapsig erwähne, dass ich ja, sollte ich es nicht schaffen, in die U-Bahn steigen könne, guckt der ganz streng und sagt, das sei keine Option. Ich bin ganz erschrocken – merke aber, dass das stimmt.

Sonntag. Um 6:54 Uhr bin ich im U-Bahnhof mit dem Hasen knopf_13 und dem Kollegen N. verabredet. Als der Wecker klingelt, dauert es noch etwa eine Minute, bis ich realisere, dass ich mich beim Stellen um eine Stunde verrechnet habe, und jetzt noch genau 23 Minuten habe, bis die U-Bahn fährt. Das sorgt schon mal für einen kleinen Warmlaufsprint. Fahrschein ziehen, da kommt auch schon die Bahn – knopf_13 winkt aus dem letzten Wagen, N. und ich steigen zu. Dafür, dass ich erst einmal meine Tupperdose auspacke und in der U-Bahn Haferbrei in mich reinschaufle, ernte ich durchaus ein wenig Hohn und Spott. Dass wir vergessen, am Zoo auszusteigen und zu weit und dann wieder zurück fahren, hat aber nichts mit meinem eiligen Frühstück zu tun.

Im Startblock fröstle ich noch etwas unter dem orangefarbenen Plastiksack. Das Licht ist wunderschön, ja, ich weiß, es wird warm, ja, die meisten mögen das nicht, aber es ist einfach ein wunderschöner Tag. Bei allen Wettkämpfen wird vor dem Start diese albern-pathetische Pirates-of-the-Caribbean-Musike gespielt – oft bin ich genervt, wenn versucht wird, mich mit Musik emotional zu manipulieren. Aber heute bin ich sofort gerührt und schwerst ergriffen. Startschuss des ersten Blocks – wir sehen die riesige Traube roter Ballons aufsteigen, und ich schniefe schon wieder vor Rührung. Herrjeh, meine Sentimentalitätsschwelle versinkt gerade ins Bodenlose.

Irgendwann dürfen wir auch los. Ich glaube bei der Siegessäule sehe ich zum ersten Mal das grüne Plakat „Berlin ist auch dein Freund“ – der Spruch gefällt mir unheimlich gut, aber ich bin zu verpeilt, um gleich zu erkennen, dass es Fairy ist, die das Plakat hält, und dass es eine Anspielung auf WWConnys Avatarbildchen ist. Das fällt mir erst viel später am Innsbrucker Platz auf. Da finde ich es dann noch toller. Es ist verblüffend, wie schnell der Ernst-Reuter-Platz erreicht ist, dann auch schon die Gotzkowsky-Brücke. Da steht Kollegin Suse und brüllt „UUWWEEE!“ – ich brülle „SUUSEEE!“ und denke, jetzt muss ich schon die Supporter anschreien, damit sie mich überhaupt wahrnehmen hinter dem langen Hasen. Ihr nachgeschoben-euphorisches „Da ist sie ja!“ versöhnt mich aber gleich wieder. Auf der Brücke erklärt ein ortsfremder Läufer seiner Begleiterin, dass das hier eine bessere Wohngegend sei. Moabit??? Wo der wohl herkommt? Und wie er wohl wohnt? Beim moabiter Knast erinnere ich mich, dass rhinfo mal geschrieben hat, dass die Knackis früher mal dem Marathon zugejubelt haben – das scheint aber nicht mehr zu klappen, ich sehe jedenfalls keine, wir sind viel zu dicht an der hohen Mauer.

Kurz nach dem Hauptbahnhof meldet sich mein Knie. Aua. Was soll das denn? Wir sind noch nicht einmal 8 km gelaufen. Das Gerücht sagt, man könne so ein Knie manchmal überlaufen. OK, wird probiert. Es tut weh, aber nicht so schlimm, dass es nicht mehr geht. Auf der Torstraße gehen mir Gedanken durch den Kopf wie: wenn du aufhörst, werden dich alle zu deiner Vernunft beglückwünschen. Ich will aber nicht zur Vernunft beglückwünscht werden, sondern zum Finishen. Ich muss mir Mühe geben, nicht unrund zu laufen. Die Musik hilft dabei – immer schön drauf aufs rechte Bein, es tut sowieso weh, also auf keinen Fall schonen, sonst wird das alles nur asymmetrisch. Je rhythmischer die Musik, desto besser klappt das, bei Jazzkapellen weniger. Es ist auszuhalten, also lauf, so lange es geht.

Mollstraße/Otto-Braun-Straße steht Raina mit Sohn Felix in der Kurve – sie rufen und winken – schön! Karl-Marx-Allee, der Springrunnen am Straußberger Platz leuchtet von weitem im Gegenlicht – wunderschön, sonst erinnere ich mich kaum an diesen Abschnitt. Der Hase fotografiert fleißig, das finde ich toll – da fällt mir ein, er hat mir die Bilder noch gar nicht gezeigt! – z.B. das Vattenfall-Kraftwerk an der Spree, das ich wirklich schön finde. Durch Kreuzberg ist es sehr kurzweilig. In der Ritterstraße wird der Verpflegungspunkt aufs engagierteste moderiert, dann laute Musik am Kottbusser Tor, dichte Menschenmenge den ganzen Kottbusser Damm entlang. Hier habe ich vor zweiundzwanzig Jahren zum ersten Mal Marathon geguckt (die chinesische Mitbewohnerin ist damals mitgelaufen). Charlotte_York steht am Hermannplatz, und kurz danach an der Hasenheide auch Barbara, die uns die ersten Gels reicht – sie hat gleich Mann und Kinder mitgebracht. Ich fühle mich sehr geehrt von so einem Bahnhof. Südstern, Gneisenaustraße, die Kilometer fliegen, auch wenn permanent das Knie weh tut. An der Ecke Solmsstraße stehen Susanne und Wolf, es kommt mir vor, als würde ich das halbe Publikum kennen.

Die Yorckbrücken mag ich auch sehr – Inumi steht da und erkennt uns im letzten Moment – da ist auch schon der Halbmarathon geschafft. Wir sind ein bisschen langsamer als geplant, ich frage mich, ob es dem Hasen was ausmacht, dass die Igelin etwas lahmt, aber noch laufen wir zu dritt. Erstmal werden wir von des Hasen Familie mit der nächsten Ladung Glibber versorgt. Brrr! Aber wenn’s hilft. Kollege N. zieht nach vorne davon. An der Grunewaldstraße steht tinadoro mit einem Schild, auf dem „Micha“ steht – nein, ich bin ja so gerührt, ich könnte schon wieder heulen. Sie reicht mir zwei Gürkchen, weil ich die im Spreewald so klasse gefunden hatte. Lecker! Und wenige Meter weiter: Jo und Ulla! Danke auch euch fürs Jubeln!

Martin-Luther-Straße, Rathaus Schöneberg, Innsbrucker Platz – hier erkenne ich endlich, dass es Fairy ist, die das tolle Plakat hält, aber zu spät um zu rufen, sie bemerkt uns nicht. Dann spielen unter der S-Bahn die großartigen Steeldrums, das ist unheimlich laut unter der Brücke (und immer schön rauf aufs rechte Bein! nicht ausweichen!). Eine WG, die mir schon letztes Jahr aufgefallen ist, hat gigantische Lautsprecher auf den Balkon gestellt und beschallt die Hauptstraße, super. Fünf ältere dauergewellte Frauen auf dem Grünstreifen grölen halbwegs melodisch „Ihr seid die Champions, ihr seid die Champions“ und versuchen dabei allen, die vorbei laufen, ins Gesicht zu schauen – so geht persönliche Ansprache.

Quasi bei mir zu Hause bei km 26 steht Titus mit den nächsten Gels und ruft uns zu „Weltrekord für Kenia“, da wissen wir, dass Patrick Makau gewonnen hat – und wir es noch ganz schön weit haben. Das Anlaufen nach der Gelübernahme ist so eklig, dass ich in Tunnelblick verfalle und den nächsten Wasserstand am Südwestkorso übersehe. In der Lenzeallee stehen Powerbar-Fahnen, aber es gibt nur Gel und kein Wasser. Doof. Außerdem klebt die Straße ganz ekelhaft, ich habe das Gefühl, die Füße nicht mehr vom Boden zu bekommen und möchte einen Moment lang eher heulen, ausnahmsweise nicht vor Rührung. Außerdem muss ich mal. Da holen wir N. wieder ein. Vor uns der Wilde Eber. Die lebensgroße Eberskulptur ist nicht zu sehen, ich glaube, sie haben die Bühne darüber aufgebaut. Ich war noch nie zum Marathon am Wilden Eber, aber alle sagen immer, dass da die Stimmung am tollsten sei. Stimmt, es ist toll. Das erste, was ich sehe, sind lange Schlangen an den Dixies, dann eine Band auf der Bühne, völlig euphorisierte Zuschauer, die uns mit Namen anfeuern, Cheerleader mit silberfarbenen Puscheln, und schon sind wir vorbei.

Am Roseneck passiert, was ich vorher nicht für möglich gehalten hätte: wir beschließen, ins Gebüsch zu pieseln. Das heißt, nach vorne zur Straße ist Gebüsch – nach hinten offener Rasen und Bänke. Auf einer Bank sitzt eine Frau. Es riecht schon etwas streng, aber irgendwie ist mir das in dem Moment egal – ich staune über mich selber. Nun ja, und verfrüht war das jetzt auch nicht. Auf dem Hohenzollerndamm bekomme ich Seitenstechen. Am Verpflegungspunkt stehen viele Liegen, auf denen Läufer sich Krämpfe rausmassieren lassen. Es tut jetzt auch nichts mehr zur Sache, dass es hier mehrere schlangenfreie Dixies gibt. Wir sind langsamer geworden, und ich frage den Hasen nochmal, ob er alleine weiter will – will er aber nicht. Ich konzentriere mich aufs Atmen und freu mich ein bisschen, dass das Seitenstechen vom Knie ablenkt. Schneller zu laufen ginge jetzt auf keinen Fall, was aber ganz merkwürdig ist: die Kilometer vergehen trotz allem schnell. Kurz vor dem Fehrbelliner Platz steigt N. aus. Schade. Ich weiß sicher, dass ich jetzt nicht mehr aussteigen werde – selbst wenn ich gehen muss, schaffe ich es von hier ab ins Ziel – von wegen Besenwagen, Frau Nachbarin.

Fehrbelliner Platz – Titus mit Glibberverpflegung und Wasser – Konstanzer Straße, Ku’damm, die Gedächtniskirche in ihrem schicken Gerüst, das sie wie ein kleines Hochhaus aussehen lässt, Nollendorfplatz, Potsdamer Straße, so langsam bekomme ich wieder Tunnelblick – schade, es läuft sich leichter, wenn ich mitbekomme, wo ich bin. Der Hase und ich reden weniger als sonst – aber ich soll ja auch nicht quatschen. Ich bewundere, wie er immer wieder beschleunigt, um zu fotografieren, sich dann wieder einholen lässt, laufe aber ganz stur einfach das Tempo, das mein Knie mir erlaubt. Bei der Philharmonie fällt mir ein Auto auf, auf dessen Dach zwei Männer und ein Lautsprecher stehen, aus dem lustige Beatbox-Geräusche kommen. Jetzt die Menschenmenge am Potsdamer Platz. Vor der Leipziger Straße hatte Schalk gewarnt, ja sie zieht sich, aber so lang erscheint sie mir dann auch wieder nicht. An der Abzweigung steht noch einmal Barbara mit Tochter Mara, wie schön! Gendarmenmarkt, so ein schöner Platz! Unter den Linden – jede Menge plattgetrampelter oder -gefahrener Pferdeäpfel, oh ja, und Gänsehaut! Brandenburger Tor. Gleich, gleich! Ich heule schon wieder.

Was mir einen kleinen Moment die Rührung im Zieleinlauf versaut, ist der furchtbar laute Heiratsantrag, den ein Läufer seiner Liebsten gerade auf der großen Videowand machen darf. Herrjeh, wie abgedroschen, das kommt doch JEDES Jahr im Marathon-Fernsehen. Aber das ist nur ein Moment, dann sind wir nämlich wirklich durchs Ziel, ich fasse es nicht, wir haben es geschafft! Ich lache und heule, umarme den Hasen – und greife mir gleich eine Handvoll Eiswürfel aus dem bereitstehenden Beutel für mein Knie. Medaillen, Plastikplane, Erdinger, Rasen vor dem Reichstag, ewig weit entfernte Frauenkleiderzelte, Jogmapper treffen beim J, Nachlaufwurst im Haus der Kulturen – eine bunte Bilderflut, die mich seit Sonntag ständig wieder und unangekündigt, wie ein Minimalariaanfall beutelt. Ich bin immer noch gerührt, wenn ich mit dem Rad die blaue Linie quere – dieses Mal ging sie mich was an! – sehe immer noch Bilder vom Lauf, bekomme immer noch unvermittelt Gänsehaut. Keine Ahnung, wann dieser Zustand wohl nachlässt – soll er aber gar nicht. Und wenn doch, muss ich womöglich mal wieder einen Marathon laufen.

P.S.: Auf mehrfache Nachfrage – ach ja, die Zeit: 4:28:48 – bin sehr zufrieden 🙂

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