Wien

Vorspann 1 – mit Erläuterungen zum Thema Hochstapelei

Dass ich dieses Jahr zum Hermann will, ist schon lange klar, spätestens, seit der Kollege aus Bielefeld uns nach dem CeBIT-Run 2012 praktisch alle eingeladen hat (nur sind die anderen Kollegen inzwischen alle abgesprungen). Nun hat aber Titouli sich zum Wien-Marathon angemeldet und gefragt, ob ich nicht mitkommen möchte. EIGENTLICH will ich erst gar nicht – und gegen Marathon spricht nicht zuletzt der Hermann. Aber in Wien kann man ja auch Halbmarathon laufen, und vielleicht wäre das ja ganz schön. Als ich mich anmelden will, ist der Halbmarathon ausverkauft. Am selben Tag postet Bbubu auf Jogmap, dass er einen Gutschein für Wien übrig hätte, und irgendwie bin ich vom Glück geküsst, denn ich bin die erste, die ihn haben will und bekomme ihn auch – hier noch einmal: Danke, @Bbubu, vielen lieben Dank! Da steh‘ ich nun, mit einem Startplatz. Klar kann man damit auch HM laufen, aber irgendwie reizt es mich doch… Weil ich ja durchaus Erfahrung mit Überlastung habe, entscheide ich mich für den ganz langsamen Marquardt-Plan, mit viel Zusatzsport, Schwimmen, Rumpfstabi, Lauf-ABC und halte mich recht ordentlich dran. Ich kündige allen an, dass ich sofort aufhören will, wenn es irgendwo ziept. Aber es ziept nicht. Ehrlich gesagt, verrate ich einigen Leuten auch gar nicht erst, dass ich mit dem Gedanken an die volle Strecke spiele… Aber die Vorbereitung läuft, trotz Eis und Schnee, trotz eines kleinen Infekts. Zum Hermann sind wir natürlich auch gemeldet – immer mit etwas schlechtem Gewissen wegen der Gräten und immer mit dem Gefühl eigentlich eine Hochstaplerin zu sein.

Vorspann 2 – Ausflug!

Im Nachtzug nach Wien reisen ist toll – ich liebe Bahn fahren, und ein Schlafwagen, in den auf der Strecke nach Dresden erstmal die untergehende Sonne scheint, ist einfach großartig. Am Freitag früh sind wir da, holen die Startunterlagen, betreiben moderaten Tourismus (viel Kaffeehaus, wenig Strecke) und kommen bei Titoulis Ex-Kollegen M. ganz zentral unter. Der ist nebenbei noch Jazzmusiker und hat am Samstag zu einem kleinen Hauskonzert geladen, denn die andere Läuferin, die auch bei ihm zu Besuch ist, kann ganz wunderbar singen. Geht’s uns gut!

Hauptteil – Marathon

Auch in Wien fahren am Sonntag früh fast nur Menschen mit den gewissen Kleiderbeuteln in der U-Bahn. Schon da kommt ein wunderbares Gefühl auf, es ist Marathon. Und wir fahren hin. Das Wetter ist traumhaft, die Kulisse vor der UNO-City fantastisch, und dann kommt, während wir unseren Kram in den Kleiderbeuteln verstauen, eine Person mit einem kleinen Schild „Top Athletes“ und direkt danach Haile und all die anderen Spitzenläuferinnen und -läufer auf dem Weg ins VIP-Zelt. Wir Hobbyläufer applaudieren und ich habe schon wieder Gänsehaut. Als die Beutel abgegeben sind, fragt mich Titouli, wo eigentlich meine Uhr sei – er denkt, ich hätte sie eben mit den Klamotten abgegeben und müsse sie halt zurück holen. Aber nein, so ist es nicht, ich Rind hab‘ sie tatsächlich auf dem Nachtschränkchen bei M. liegen gelassen. Arme Garmine, schon wieder allein zu Haus.

Wir stellen uns in den schwarzen Startblock (das wäre in Berlin H wie „hinten“), wo leider von der Musikbeschallung, die es weiter vorne gibt, fast nichts zu hören ist. Da hätten sie aber mal ein paar Lautsprecher mehr spendieren können, zumal die Musik hier wirklich anders ist als anderswo – Klassik, sehr stilvoll! Im Schatten ist es noch kalt. Irgendwann geht es los, das finde ich etwas unspektakulär, so ohne Musik und Luftballons, als es aber über die Donaubrücke geht, bin ich doch ziemlich ergriffen. Am Eingang zum Prater stehen seltsame Schilling-Nostalgiker mit einem „Raus-aus-Europa“- und einem „Marathon statt Banken-Run“-Transparent (hö?) Von solchen Leuten will ich mich ja nicht vereinnahmen lassen und rufe ihnen ein herzliches „Europa!“ zu, einige Läufer lachen. Es geht durch den Prater – noch gibt es keine Blätter an den Bäumen, aber Knospen, die aussehen, als würden sie jeden Moment explodieren. Wir sind eher langsam unterwegs, aber das soll so sein. Genießen und gesund ankommen.

Zuschauer gibt es nicht sehr viele, auch nicht, als wir am Donaukanal Richtung Innenstadt laufen, aber da kommt uns die Spitze entgegen. Wahnsinn, wie die fliegen! Die sind schon bei KM 28 oder so, wir haben gerade mal 9 zurückgelegt. Gelegentlich steht da ein Wagen mit Lautsprechern drauf, hmm, die Live-Musik-verwöhnte Berlinerin reißt sich zusammen und findet auch Konserve fein. In der Innenstadt wird es etwas belebter. An der großen Kreuzung Schwarzenbergplatz spielen sie Walzer – ich versuche Laufschritt und Walzertakt zu vereinbaren, aber das klappt eher bedingt. Vor der Oper, wo die große Leinwand hängt, und wo eine Trommelgruppe trommelt, drängt sich das Publikum, hier werden wir angefeuert! Am Naschmarkt biegt Titouli in eine öffentliche Toilette ab – das will ich auch, aber die Damenabteilung hat geschlossen. Ich fühle mich etwas diskriminiert und laufe weiter. Auf der linken Wienzeile steht unser Gastgeber fotografiert und jubelt uns zu – eigentlich muss der heute am Schreibtisch sitzen, er ist extra für uns an die Strecke gekommen. Danke! Es geht Richtung Schönbrunn. Weil die Straße sich schlängelt, sehen wir den langen bunten Läuferlindwurm vor und hinter uns. Naja, eher vor uns. Fast alle um uns herum haben die Startnummern des HM – ob nachher wohl überhaupt noch jemand übrig ist, der mit uns die zweite Hälfte laufen wird?

Am Staffelwechselpunkt sehe ich ein freies Toitoi (so heißen die Dixies hier). Titouli geht solange weiter, bis ich ihn wieder eingeholt habe. Vom Schloss Schönbrunn ist nichts zu sehen, dafür bekomme ich mal wieder Seitenstiche. KM 17-19 sind etwas mühsam, ich schnaufe und versuche sie wegzuatmen, dann geht’s wieder. Da ist auch schon die Hälfte vorbei und die Halben biegen ab durchs Heldentor. Titouli will noch gar nicht hinschauen – ich schon.

Es wird leerer auf der Strecke, wir laufen den Ring weiter, und irgendwann wieder am Donaukanal Richtung Prater. Links steht ein Schild 28, rechts, wo sie uns schon entgegenkommen eins mit einer 38. Au weia, es wird noch über eine Stunde dauern, bis wir wieder hier sind. Doch, die auf der Gegenfahrbahn sind merklich schneller als wir unterwegs. Ein bisschen beneide ich sie. Am Straßenrand steht ein Mann mit Notenständer und spielt Akkordeon – endlich wieder einmal Live-Musik, danke! Ich entwickle eine Theorie, die geht so: wenn der Marathon erst bei KM 30 anfängt, ein Zehner aber immer geht, dann müssten die Kilometer 30-32 die schlimmsten sein, und danach müsste es wieder leichter gehen. Ich versuche das zu beobachten.

Erstmal sind sie wirklich schlimm: zuerst die blöde kleine Wendestrecke vor dem Ernst-Happel-Stadion, dann die lange Wendestrecke auf der Praterhauptallee. Irgendwo habe ich was von schattigen Praterbäumen gelesen. So ist es aber nicht. Zwar kommt es uns vor, als wären die Knospen noch ein bisschen dicker als vorhin, Schatten spenden sie aber immer noch keinen. Dafür hängen an den Bäumen Lautsprecher, die alle dieselbe Musik spielen. Das ist toll! Wir laufen durch die Musik. Trotzdem zieht es sich ziemlich bis zu diesem ollen Lusthaus, wo wir endlich wenden dürfen. Zum Glück kommen auch uns noch Läufer entgegen, ich dachte schon, hinter uns kommt nichts mehr. Als ich das letzte Gel aus der hinteren Hosentasche fummle, stelle ich fest, dass die Tüte geplatzt ist. Der Notgeldschein, das Ticket für den Nahverkehr und das Gel bilden eine klebrige Einheit. Meine Güte, das Zeug klebt wie Hölle. Irgendwie bekomme ich die Geltüte dann doch raus und leere sie. Die Hände kleben jetzt ebenfalls ganz fies, buäh.

Bin ich froh, als wir wieder bewohntere Gegenden belaufen und ich mir an einer Wasserstelle kurz die Hände waschen kann. Der Mann mit Akkordeon ist immer noch da und spielt. Die Zuschauer, die jetzt noch da sind, sind übrigens großartig. Wir werden so direkt und persönlich angefeuert, wunderbar. Ich beschließe, an meine Theorie zu glauben, und es funktioniert. Die Beine sind längst nicht mehr so schwer wie eben im Prater, ich muss alle, die uns zujubeln anstrahlen, mich bedanken, zurückjubeln und bin einfach total marathongeflasht. Es macht so viel Spaß, die Helferinnen an den Wasserstellen stehen jetzt mitten auf der Fahrbahn, um uns die Becher direkt auf der Ideallinie zu servieren. Nochmal wird Walzer gespielt, diesmal muss ich mich sogar ein paarmal drehen. Es ist nicht mehr weit, es ist nicht mehr weit, ich habe das Gefühl, ich fliege gleich – hat schon mal wer fliegende Schnecken gesehen? Gibt’s echt! Nochmal Oper, nochmal Trommeln, nochmal Jubel! Wow, was machen die hier noch alle? Sind die wegen uns so lange dageblieben? Und da ist endlich die Abzweigung auf den Heldenplatz, der rote Teppich ist hier gelb, gemeinsam fliegen wir nebeneinander durchs Ziel.

Nein, wir sind nicht wirklich geflogen – 4:53 ist nicht schnell. Aber das Gefühl war einfach trotzdem da.

Abspann

Medaille (die ist wirklich toll, sternförmig und mit einem Glitzerstein!), Erdinger, Kleiderbeutel, Belohnungskaffee im Palmenhaus, U-Bahn, Abendessen mit M., Rückfahrt am Montag im Zug (sehr erholsam, kann ich nur empfehlen, auch wenn der Speisewagen keinen Strom hatte und wir nur Salat bekamen), Regenerieren. Das war ein wunderbarer Ausflug nach Wien.

Und jetzt? Wie geht es dem Gestell? Eigentlich gut, aber ganz sicher bin ich nicht, ob es eine gute Idee ist, am Sonntag den Hermann zu laufen. Ein bisschen Hochstapelei halt – oder den Hals nicht voll kriegen. Morgen werde ich noch einen kleinen Test laufen, ob alles sich so anfühlt, wie es soll. Drückt mir die Daumen.

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