Berlin: genau wie beim ersten Mal, nur anders

Mein zweiter Marathon in Berlin – der dritte überhaupt – war eigentlich genau wie der erste. Aber irgendwie auch ganz anders.

Gleich: ich bin sooo aufgeregt. Aber auch anders: ich habe wieder nach Plan trainiert, dieses Mal nach Marquardt, habe fast alle Lauf-ABC, Rumpf- und Koordinationsübungen gemacht, bin gut mit den Tempoeinheiten klar- und ohne Verletzung durch den Plan gekommen. Ich weiß auch schon, dass ich Marathon kann. Beim ersten Mal wusste ich das noch nicht, da war nicht nur Lampenfieber, sondern auch große Angst, es nicht zu schaffen. Dieses Mal weiß ich, ich schaffe das, aber es geht nicht mehr nur ums Ankommen, ich habe ein Ziel und das heißt 4:15. Plan B? Habe ich nicht.

Gleich: am Vorabend ist Jogmap-Treffen im Tomasa – aber anders: große Aufregung, weil der von uns reservierte Raum anderweitig vergeben ist, gleichzeitig kommen viel mehr Leute, als sich angekündigt haben – Stachel kämpft wie eine Löwin und siegt: am Ende dürfen wir doch in „unseren“ Raum, und es wird ein wunderbarer Abend. Alte und neue Bekannte, Nicknames, deren Blogs ich seit Jahren verfolge, und die nun einen echten Namen und ein Gesicht bekommen, Gespräche, Lachen, Essen, Trinken, und eine Verabredung mit fast allen für den nächsten Morgen an der Schweizer Botschaft. Auch anders ist, dass ich Besuch habe: Frau happy gibt sich die Ehre bei mir zu übernachten, das ist schön (nicht so schön ist, dass der Sprössling der Nachbarin oben etwas nachtaktiv ist, sorry, happy!).

Gleich ist das strahlende Wetter. Seit Tagen habe ich die Vorhersage verfolgt und mich auf goldenes Herbstlicht gefreut – so geht Berlinmarathon! Anders als vor zwei Jahren bleibt es aber kühl – ideales Laufwetter, es muss einfach toll werden! Im Startblock ist es noch kalt, das ist gleich. Mit Frau mainrenner stehe ich da, sie wird filmen (gibt’s das Ergebnis auf youtube?), die Ehrengäste werden begrüßt, aber in Startblock H (wie „Hinten“) sehen wir natürlich nichts. Die Musik ist wieder „Pirates of the Caribbean“, und auch wenn ich die Luftballontraube wie immer seit Jahren wunderbar finde, bin ich nicht so sentimental wie beim letzten Mal und muss ganz und gar nicht heulen. Es geht los. Hach, ist die Goldelse schön. Am großen Stern werden wir auch schon von renbueh, Schalk, Fairy, Stachel und ete69 angefeuert. Prima. Meine Versuche, gelegentlich touristisch wertvolle Informationen zu liefern geraten ziemlich lahm, sorry, Frau mainrenner. Bis in die Torstraße laufen wir gemeinsam, dann wird sie schneller, ich bleibe bei meinem Tempo, denn ich habe ja einen prima Plan A. Der Plan ist insofern super, dass ich, wenn ich einen glatten Sechserschnitt laufe, ganz leicht rechnen kann, weil dann alle fünf Kilometer eine halbe Stunde vergangen sein sollte. Dazu muss ich natürlich etwas schneller laufen als Garmine anzeigt, denn die findet wie üblich alles etwas weiter. Bloß gut, dass sich das so leicht rechnet, na, und damit das Rechnen leicht bleibt, muss ich einfach nur gleichmäßig laufen. So ungefähr (ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie ich das geschafft habe):

5 km: 00:30:09
10 km: 00:59:51
15 km: 01:29:26
20 km: 01:59:30
25 km: 02:29:08
30 km: 02:59:00
35 km: 03:28:44
40 km: 03:58:10

Es ist toll, die Strecke schon zu kennen. Ich freue mich auf die Karl-Marx-Allee, denn vor dem Kino International steht S. (meine langjährigste Supporterin, die schon meinen ersten Zehner anno 2009 bejubelt hat). Sie ist sehr leicht von weitem zu erkennen, denn ihre blonden Wuschellocken leuchten im Gegenlicht. Sie hat nicht nur mir zwei Gürkchen mitgebracht, sondern auch Sohn und Freund, und sie haben ein spitzenmäßiges Supporterplakat dabei, mit dem ausgesprochen motivierenden Text „Micha Micha Micha“ – finde ich super! Hat bestimmt auch noch ein paar andere Michas froh gemacht.

Der Springbrunnen am Straußberger Platz leuchtet und funkelt genau wie beim letzten Mal, auch auf den habe ich mich sehr gefreut, er ist einfach wunderschön. Und noch mehr Dinge sind genau wie beim ersten Mal: der Verpflegungspunkt in der Ritterstraße wird moderiert! Der Moderator findet es toll, dass wir alle noch lächeln, verspricht in dem Fall besonders guten Service, nimmt das aber gleich zurück und sagt, wir alle bekämen hier alles, was wir brauchen. Er kommt mir vor wie ein alter Bekannter. Am Kottbusser Tor spielt eine tolle Saz-Band, der Kottbusser Damm ist von Menschen gesäumt und gleich nach der Brücke steht M., die heute Geburtstag hat – leider konnte ich nicht mit rein feiern. Umso toller, dass sie jetzt da ist. Ich rufe ihr Glückwünsche zu und bin schon vorbei. An der Hasenheide steht noch ein S. und reicht mir eine salzige Kartoffel. Boah, ist die lecker! Davon hätte ich später gerne noch eine gehabt. Gleich danach sitzt am Rand eine grauhaarige Frau im Rollstuhl. Sie reckt uns Zeige- und kleinen Finger beider Hände entgegen und brüllt unaufhörlich „Rock’n’Roll – YEAH!!! Rock’n’Roll – YEAH!!!“ Ich bin sehr gerührt! Am Südstern herzt der Wirt vom „Mädchen ohne Abitur“ (große Empfehlung!) gerade einen Läufer, den ich aber nur von hinten sehe, so dass ich leider noch nicht weiß, ob das sein Kompagnon ist. An der Gneisenaustraße flötet eine Andencombo in Federschmuck „El Condor Pasa“ – kennen die wirklich nur ein Stück? Wie ein Kondor fühle ich mich nun doch nicht gerade.

Wenig weiter vor dem Passat-Reisebüro stehen S. und W. – genau wie beim ersten Mal. Ich rufe, sie winken und jubeln, schon vorbei. Yorckbrücken, dann Halbmarathon – das Rechnen ist immer noch leicht. Potsdamer Straße, Grunewaldstraße – hier gibt es eine Überraschung: tinadoro hat ihr Schild von vor zwei Jahren rausgekramt. Ich habe sie eine Weile nicht gesehen und freu mich wie blöd. Ich hangele mich von einer Supporterin zur nächsten, denn schon am Rathaus Schöneberg steht meine Kollegin M., die ein paar Schritte mitläuft und berichtet, dass knopf_13 schon vor einer Viertelstunde hier durchkam.

Genau wie beim ersten Mal sind unter der S-Bahnbrücke am Innsbrucker Platz die Steeldrums – Gänsehaut! – und gleich danach die WG mit den Lautsprecherboxen auf dem Balkon. Sie haben den ganzen Balkon mit den „Marathonstrecke – hier nicht parken“-Schildern der letzten Jahre geschmückt und spielen einen Spitzensoundtrack zum Marathon (viele haben ein Lied gehört, das gerade passte, Firlefanzus „immer weiter gehen“, bei mir war es was mit „Renn…“ – hmm, habe so gesucht, aber das Lied nicht gefunden, noch jemand?) – ich glaube, denen muss ich mal ein Blümchen vorbei bringen – und nach der Playlist fragen – die sind eine echte Institution.

Hauptstraße, Wiesbadener Straße, Südwestkorso, ich laufe einfach, lache die Zuschauer an, freue mich an den Bands, werde ab und zu mal mit Namen angefeuert, Lentzeallee – buäh, hier gibt’s die Powerbar-Gels, davon klebt wieder die ganze Straße. Letztes Mal hat hier mein Knie so schlimm geschmerzt, dass ich auf den Grünstreifen ausgewichen bin, weil der nicht so klebrig war. Heute geht es mir einfach nur gut, ich laufe wie ein kleines Uhrwerk. Am Wilden Eber stehen die Leute wieder in mehreren Reihen, aber die Musik ist gerade etwas lahm. Am Hohenzollerndamm sitzt ein etwa 14-jähriger Junge mit Schlagzeug vor einem großen Transparent „Jan’s Drum Station“ – alle Achtung, der Knabe trommelt, was das Zeug hält, und das vor großem Publikum. A propos Hohenzollerndamm: Was mir vorhin aufgefallen ist – ich sollte bei den Zeitmessmatten nicht immer auf die Uhr gucken. Das sieht im Video (und die Kameras stehen alle an den Zeitmessmatten) einfach blöd aus. So langsam werden die Beine etwas schwerer, aber mir tut nix weh, jedenfalls nicht richtig. Ich denke daran, wie schwer es beim letzten Mal war – kein Vergleich – etwas schwere Beine sind kein Grund langsamer zu werden. Lauf einfach, Du kannst das, das Rechnen soll leicht bleiben. Fehrbelliner Platz, Konstanzer Straße, schon Ku’damm. Leute, Jubel, Bands (zu viel Jazz dieses Jahr, könnte ich vielleicht mal eine ordentliche Punkband haben?), Sonnenschein. Hinter dem Nollendorfplatz reicht eine Frau Duplos aus einer Schachtel, ihr Begleiter bietet Cola an – so reizend, aber ich habe keinen Bedarf. Potsdamer Straße – ha, eine Steigung zur Potsdamer Brücke! Ach was, auch das zählt nicht. Danach standen letztes Mal die Beatboxer. Dieses Mal weiß ich, dass ich am Potsdamer Platz nach den Jogmap-Supportern Ausschau halten darf. Da sind sie! Sie sehen mich auch und jubeln – Danke!

Und dann kommt ein echtes Highlight: An der Leipziger Straße unter den Arkaden sehe ich Schalk, ich brülle, muss langsamer werden und nochmal brüllen, da sieht er mich, lacht und sagt, auf mich habe er gerade gewartet. Ui! Und dann begleitet er mich, sagt mir, wo ich die Kurven lieber außen nehmen soll, um nicht abbremsen zu müssen, versichert mir, ich sähe noch locker aus und rechnet, dass ich etwa bei 4:11 im Ziel sein müsse. Er unterhält mich, macht ein Foto, bringt mir Wasser vom letzten VP, ich fühle mich einfach umsorgt und verwöhnt. Kurz vor Unter den Linden schickt er mich mit der Aufforderung weiter, den Rest zu genießen. Wow, das war toll, vielen, vielen Dank, Schalk!

Und wie ich den Rest genieße: die Fußgängerschleuse passiere ich rechts, Brandenburger Tor – es macht auch beim zweiten Mal noch Gänsehaut hindurch zu laufen! Die Zielgerade – die Luft reicht zum Beschleunigen, aber das rechte Bein krampft und sackt fast weg. Oh hoppla, dann einfach Tempo halten, strahlen, laufen, strahlen, laufen, laufen – Ziel! Ich halte die Uhr an und kann es kaum glauben, da steht eine 4:10 drauf. Mir wird eine Medaille umgehängt und ich habe meinen zweiten Berlinmarathon geschafft. Eigentlich war er genau wie der erste: wunderbar, berührend, beeindruckend, nicht ganz so sentimental (musste beim Zieleinlauf auch nicht heulen) – nur leichter.

Es war haargenau das, was ich an dem Tag laufen konnte – mehr, als ich mir vorgenommen hatte, anstrengend, aber ohne Quälerei. Andererseits hätte ich nicht eine Minute schneller sein können (da bin ich so sicher, weil ich im Ziel fürchterliche Krämpfe in beiden Beinen hatte – aber eben erst im Ziel, nicht vorher).

Hätte ich vorher einen Wunsch frei gehabt: genau so hätte mein Marathon sein sollen.

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