Kämpfen in Kaulsdorf

Der Schalk hatte eingeladen – zum Kaulsdorfer Seenlauf mit wahlweise 6 oder 12,5 km. Ich freu mich. Aufs Laufen, aber noch mehr darauf, einige der supernetten JogmapperInnen zu treffen. 

Leichtsinnigerweise habe ich mir vorher die Website angesehen, und konnte es auch nicht lassen, in die Ergebnislisten des 12,5-km-Laufs vom letzten Mal zu schauen. Und da steht es: die letztjährige Siegerin der AK W50 hat 68 Minuten gebraucht, d. h., sie ist eine 5:30er Pace gelaufen. Diese Tatsache verursacht Rangeleien zwischen meinem heimlichen Ehrgeiz und seinem Gegenspieler, dem gepflegten Understatement, denn einerseits kommt’s ja immer nur auf die eigenen Möglichkeiten an (um den Schalk sinngemäß zu zitieren: wir haben schließlich keinen Einfluss darauf, ob die Schnelleren an diesem Tag auch dabei sind oder woanders laufen), andererseits darf eine sich ja auch mal Ziele setzen. 5:30, das müsste ich doch schaffen… aber das wird ein Crosslauf, ich bin noch nie auf Zeit durch den Wald gewetzt, keine Ahnung, welche Pace da machbar ist. Nach einigem Abwägen beschließe ich zu laufen, so schnell ich kann. 

Zeitsprung zum Startschuss – alle brettern los wie angestochen. Ich auch. Aber nicht weit, denn dass eine 5er-Pace für mich nicht durchzuhalten ist, sehe ich schon nach wenigen hundert Metern ein. Ab da ändert sich lustigerweise in dem Teil des Feldes, von dem ich etwas mitbekomme, nicht mehr viel. Vorne rennen sie davon, hinter mir haben sich anscheinend auch alle auf ihr Tempo besonnen. Mir ist es egal, denn mein privates Ziel lautet: etwas unter 5:30er Pace. Am Anfang gibt’s noch etwas laubbedeckten Qualitätsasphalt, dann festen Fahrweg durch eine Kleingartenanlage – lieber hier noch etwas schneller, denn wer weiß wie es wird, wenn es dann in die Wiesenpfade um die Seen geht. Ein Mann ganz in Blau läuft direkt vor mir, an den hänge ich mich erstmal dran. Schmal wird der Weg, teils wurzelig, aber jemand scheint das Laub beiseite gepustet zu haben, so dass die Hindernisse gut zu erkennen sind. 

Auf dem Weg zum Start hat Schalk uns schon gebrieft: da ist der Sandstrand, da kann man überholen, anschließend den kleinen Anstieg hoch Druck machen und die Überholten überrascht hinter sich lassen. Wenn man kann. Ich bleibe brav hinter dem Blauen, auf dem Strand hüpfe ich direkt in seine Fußstapfen, das ist eine gute Technik. Weiter geht’s um den See, dann sind da die von Wildschweinen gewühlten Löcher, vor denen beim Start schon gewarnt wurde, eine kleine Steigung und weiter den schmalen Fußweg entlang. Die Pace ist immer noch bei 5:20, es ist anstrengend, aber Beine und Lunge tun was sie sollen: Laufen und Schnaufen – letzteres schon etwas lauter. Das muss dieses Verlassen-der-Komfortzone sein, von dem man so viel hört.  

An der Engstelle, wo der Weg vor und nach der Seeschleife entlang führt, stehen die drei bezaubernden Supporterinnen, jubeln und fotografieren. Vor Begeisterung achte ich nur kurz nicht auf den Untergrund und gerate auch gleich ins Straucheln. Dreistimmig wird mir empfohlen (oder befohlen?) nicht zu stürzen, also halte ich mich daran. 

Am Ende der ersten Runde fürchtet der Blaue vermutlich, dass ihn gleich eine kleine Dampflok überrollt, so muss er meinen Atem im Nacken spüren – kein Wunder, dass er einen Zacken drauflegt und sich langsam nach vorne entfernt. Ich schaffe es beim besten Willen nicht, dran zu bleiben. Grrmpf. Der Mann in der gelben Jacke, der bisher dicht hinter uns gelaufen ist, zieht nun an mir und dann auch an dem Blauen vorbei, und die beiden werden leider immer kleiner. Sie bleiben – solange ich sie sehen kann – dicht beieinander und wirken zusammen wie eine hoppelnde schwedische Flagge. Ich versuche die Beine schneller zu bewegen, aber das gelingt nicht mehr. Laufe ich wirklich, so schnell ich kann? Wo sind denn mal meine Grenzen? Keine Ahnung. 

In der Kleingartenanlage höre ich rhythmisches Schnaufen von hinten. Ein Mann trabt unglaublich locker heran. Er hatte sich verlaufen, plaudert ein wenig (er plaudert, ich habe keine Luft übrig und antworte eher einsilbig) und entschwindet dann nach vorne, wo er auch Blau und Gelb locker hinter sich lässt. Eine Frau in Schwarz taucht dort auf. Ich meine, langsam näher zu kommen. Blau-Gelb haben sie schon eingeholt, aber auch ich verringere den Abstand. Kurz vor dem Strand überhole ich sie, stolpere dieses Mal meine eigenen Abdrücke in den weichen Sand, gebe alles an der kleinen Steigung und habe die Frau abgehängt. Darauf brauche ich mir allerdings überhaupt nichts einzubilden: sie war, wie ich später erfahre, nur für 6 km gemeldet und ist versehentlich am Ziel vorbei gelaufen. Großartig, dass sie die 12,5 km überhaupt geschafft hat. 

Noch einmal geht es um den See, bei den Wildschweinlöchern fühle ich mich für kurze Zeit noch einmal ganz stark und leichtfüßig, aber schon bei dem kleinen Anstieg dahinter lässt das abrupt nach. Ich muss beißen, dabei kann ich das doch gar nicht, wenn mich niemand antreibt. Ketzerische Gedanken blitzen: es macht keinen Unterschied, vorne niemand zum Einholen, von hinten niemand, der mich einholen will, was soll die Hetzerei? Ich versuche, an den Trainer zu denken („Kämpfen, Micha!“) oder an den Hasen („Die letzten drei Kilometer müssen keinen Spaß machen“). Es sind weniger als zwei Kilometer, also los. Ich wollte mich schließlich sputen und tu’s dann auch wieder. 

Kurz vor dem Ziel wartet der Schalk, der schon längst fertig ist, und begleitet mich auf dem letzten Stück. Er kommentiert die letzten Abs und Aufs, noch fünfzig Meter, gleich bist Du da. Eigentlich möchte ich fragen, wie es für ihn ausgegangen ist, aber dazu reicht die Puste nicht. Also rennen, was das Fahrgestell noch hergibt. Da stehen schließlich im Ziel Leute und jubeln, die haben es verdient, dass ich alles gebe. Das Zeitmessverfahren ist interessant: ein Mann mit Stoppuhr drückt alle Einlaufzeiten ab, dazu wird der Minizettel von Startnummer abgegeben und aufgespießt, so dass die Reihenfolge des Einlaufs feststeht. Am Ende können so die Startnummern den Zeiten zugeordnet werden. 

Tja, und dann bin ich tatsächlich AK-Zweite, bekomme bei der Siegerehrung eine niedliche Urkunde (A5) und die Hand geschüttelt. Ich schüttle meinerseits die Hände der Ersten und der Dritten. Zwar war ich eine Minute schneller als die Schnellste von letztem Jahr, aber eben sechseinhalb Minuten langsamer als die Siegerin. Wäre ich in flottem Wohlfühltempo gelaufen, wäre ich immer noch Zweite, und weil es nur drei Teilnehmerinnen in W50 gab, selbst mit Wandern noch Dritte. Was lernt uns das? Es stimmt einfach: ich kann mich nur an den eigenen Möglichkeiten messen, und das ist sehr gut so.  

Der gesellige Höhepunkt des Tages war dann das anschließende Frühstück bei den Schalks, das war sehr fein, sehr gemütlich und lustig. Vielen herzlichen Dank dafür! 

Potsdam – die Fünfte

Tatsächlich bin ich schon zum fünften Mal beim Potsdamer Schlösserlauf zum Halbmarathon angemeldet. Dieses Jahr habe ich verletzungsbedingt nicht wirklich viel trainiert, und schon gar kein Tempo, aber egal, Potsdam muss sein, da ist es einfach so schön.

Inzwischen ist es schon fast Routine: der Regionalexpress nach Magdeburg fährt um 7:17 ab Zoo, kurz nach halb acht verlassen wir in Potsdam den Hauptbahnhof. Schon von der Rolltreppe sehen wir die Läufertraube am Shuttlebus, aber eine freundliche Ordnerin schickt uns auch gleich nach rechts zur Straßenbahnhaltestelle, da käme gleich die Sondertram. Ich liebe die Sondertram, die ist viel netter als der Shuttlebus, bin also mit der Einweisung sehr zufrieden. Nur, dass die Bahn nicht kommt, stört ein wenig. Manche Läufer überlegen, doch zu den Bussen rüberzurennen, aber dort drängeln sich immer noch die Läufermassen in sehr wenige Busse. Um 8 kommt eine reguläre Tram 91 zum Bahnhof Pirschheide, die wird geentert. Wir quetschen uns rein wie in Tokio zur Rush Hour, einige Fahrgäste bekommen Angst, dass sie nicht mehr raus gelassen werden und schimpfen ein wenig rum, dass diese ganzen Läufer da alles versperren. Eine Läuferin findet, dass gut gelaunte Läufer viel angenehmere Mitreisende seien als besoffene Fußballfans, aber das zieht bei dem älteren Herrn nicht, er grummelt weiter. Viel besser verstehe ich die Leute, die an den folgenden Haltestellen warten und keine Chance haben, in die Bahn reinzukommen, denn von uns steigt schließlich niemand aus.

Am Luftschiffhafen angekommen finden wir alles anders vor als in den Vorjahren: Messe und Startnummernausgabe sind in der neuen MBS-Arena. Da ist leider nicht genug Platz für die Gepäckabgabe. Dafür stehen wir vor einer kleineren Halle nebenan Schlange. Um überhaupt in die Halle reinzukommen. Drin geht es dann aber einigermaßen zügig voran. Praktisch ist das alles nicht wirklich, aber, wie ich in der Toilettenschlange erfahre, ist die große Leichtathletikhalle schon seit dem Winter wegen Einsturzgefahr gesperrt. Na gut. Wir sind gerade noch so rechtzeitig, um uns in den Startblock einzureihen. Olly, der vor zwei Wochen in Kopenhagen Marathon gelaufen ist, will mich begleiten und sicherstellen, dass ich unter zwei Stunden bleibe. Ich erkläre ihm, wie das mit dem Hasieren geht, dass er mich nämlich erst auf den letzten drei Kilometern scheuchen darf. Vorher muss die Sache Spaß machen, erst dann ist ein bisschen Quälen von Seiten des Hasen erlaubt.

Das Wetter ist traumhaft, die Strecke touristisch wertvoll und immer wieder schön. Ganz besonders bei knallblauem Himmel und tollem Licht. Langsam einrollen auf der Zeppelinstraße, es rollt wirklich, die Beinchen laufen ein Tempo, das sich vorläufig anfühlt, als könne es immer so weitergehen, völlig gleichmäßig 5:40, 5:33, 5:33, 5:31, 5:30, 5:27, fein, das ist das Uhrwerk, der Hase hat nichts zu tun. Brandenburger Tor, Altstadt, über die Havel, Richtung Babelsberger Schlosspark, dort abbiegen auf die Berliner Seite und über die Glienicker Brücke zurück nach Potsdam. Hier sind zwei langsamere Kilometer mit 5:43 und 5:40 – das Schneckengekringel unter der Brücke durch kostet etwas Zeit, dann noch der VP. Durch den Neuen Garten und die Nauener Vorstadt nehmen wir wieder Fahrt auf, es geht durch die Russische Kolonie Alexandrowka mit ihren schönen Blockhäusern – und dann passiert’s: vor uns Polizei und Blaulicht: „An die Läufer, hier spricht die Polizei.“ Ich kriege einen Schreck und denke, es sei etwas passiert. „Verlangsamen Sie bitte ihren Lauf und bleiben Sie an der Straße für eine Minute stehen. Es findet ein Radrennen statt. Bleiben Sie bitte stehen!“ Bitte was? „Sie können in einer Minute weiterlaufen. Bleiben Sie bitte stehen!“ Tatsächlich, auf der Jägeralle kommen Rennräder angesaust, begleitet von Autos mit weiteren Rädern auf dem Dach. Das sieht schwer nach Profiveranstaltung aus. Aber was soll das? Wie schlecht darf eine Gemeinde denn ihre Sportveranstaltungen koordinieren? Wir lassen einen Pulk Radler durch, der nächste kommt erst in einigen hundert Metern. Die ersten LäuferInnen stürzen sich zwischen die Begleitfahrzeuge und die meisten folgen. Lange bevor der nächste Radler herangezischt ist, haben wir die Straße gequert. Die hinter uns müssen wieder warten. Bloß gut, dass es bei mir heute nicht wirklich auf Zeit geht, sonst hätte mich das mehr gestört.

Durch den Hintereingang dürfen wir wieder in den Schlosspark Sanssouci, schau mal, Touristen! Einige applaudieren sogar. So langsam wird es anstrengend. Ich habe wirklich nicht Tempo trainiert und finde die Angelegenheit mühsamer als erwartet. So langsam darf der Hase zwar seinen Dienst aufnehmen, aber ich habe ein kleines Motivationstief und reagiere eher grummelig. Der Hase weiß nicht, was er tun soll, und ist sicherheitshalber wieder still. Mein linker Fuß tut weh. Was soll das? Ich habe keine Lust mehr. Der Hase ruft ein verhaltenes „Tschakka“, aber das hilft im Moment auch nicht (ehrlich gesagt, konnte ich das Wort noch nie leiden – die Kilometer vor und nach dem Neuen Palais gehen in 5:37 weg – na, das sollte doch noch immer locker reichen? Aber irgendwie hat Garmine mal wieder zu viel gemessen, und es wird knapp). Die Strecke am neuen Palais zieht sich. Ein Vorfußläufer mit Trinkrucksack überholt in einem Affenzahn. Er rollt kein bisschen über den ganzen Fuß, sondern hüpft die ganze Strecke auf Zehenspitzen. Das sieht ein bisschen lustig aus, scheint aber extrem effizient zu sein.

Der letzte Verpflegungspunkt, es sind nur noch zwei Kilometer. Die Forststraße zieht sich, wie jedes Jahr, aber ich versuche noch ein bisschen Gas zu geben, 5:24, 5:19 – aber ich habe wirklich keine Lust mehr. Der Hase versucht zu motivieren, und die Igelin versucht schnaufend, das Tempo zu halten. Endlich sind wir ums Stadion rum, die Frau in der Kompressionstight und dem neonpinken Shirt kriege ich noch, die davor auch noch? Nein, die beschleunigt ebenfalls, die kriege ich nicht. Ich renne nochmal, so schnell ich noch kann und schon ist die halbe Stadionrunde vorbei und das Ziel erreicht. 1:59:06. Naja, gerade noch so unter zwei Stunden. Ich bin platt. Das Clausthaler schmeckt nicht. Wollen wir die Urkunde ausdrucken lassen? Da stehe ich doch tatsächlich in der Männerwertung drin – nicht dass die Wertung in meiner Preisklasse irgendeine Rolle spielt, aber trotzdem. Vermutlich hat jemand in der Organisation versucht mitzudenken und Vermutungen über anderer Leute Geschlecht angestellt. Tststs, die letzten viermal haben sie es doch auch hinbekommen. Es gibt aber einen Reklamationsstand, der sich als ziemlich interessant erweist. Da gibt es einen jungen Mann, der mit der richtigen Startnummer einen falschen Namen ausgedruckt bekommen hat. Und die Erste der W75, die gemeinerweise mit der W70 gewertet und dort nur Dritte geworden wäre. Alle bekommen geholfen, auch meine Urkunde erfährt eine Geschlechtsumwandlung, die mich immerhin vom 140. Platz der M50 auf den 23. der W50 befördert.

Fazit: das war viel anstrengender als sonst. Ich habe dieses Jahr einfach noch viel weniger Kilometer in der Statistik als letztes Jahr und es waren gar keine wirklich schnellen dabei. Die Beinchen mögen zwar noch einen halbwegs flotten Schritt, aber um den gleichmäßig durchzuhalten, war einfach die Kondition und Kraft noch nicht wieder da. Auf dem linken Fuß, der noch nie Theater gemacht hat, ist eine Beule zu sehen. Die ärgert mich ganz besonders, jetzt, wo gerade der rechte wieder schmerzfrei mitspielt. Immerhin tut sie heute nicht mehr weh, aber eine Warnung ist es schon, nicht gleich wieder übermütig zu werden.

Asics Grand 10 – reine Kopfsache

Eigentlich habe ich keine Lust auf Hetzen – brr, Zehner! Und andererseits heißt es immer, so zwei, drei Wochen nach dem Marathon sei schon mal eine PB auf 10km möglich (Proteco hat vorgemacht, wie’s geht!). Und weshalb habe ich mich überhaupt angemeldet? Weil an dem einen Wochenende jede sechste Anmeldung den Startplatz geschenkt bekam? Bei meinem sprichwörtlichen Losglück? Absurd! 

Als ich mich in Startblock 3 wiederfinde – wo ich unbedingt hingehöre, denn ich habe noch nie sub 50 geschafft – ist mir also schon einmal reichlich ambivalent. Ich habe den Verdacht, dass so einiges Kopfsache ist: z. B., dass ich mich ärgere, dass so viele mit Startnummer für B4 um mich herum stehen. Über sowas ärgere ich mich sonst nie. Als es losgeht, finde ich es richtig doof. Von wegen am Anfang rennen alle wie die Besammelten – Startblock 3 setzt sich in einer Gemütsruhe in Bewegung, dass ich manche Viererreihe vor mir mit stechendem Blick in den Hintern piekse. Davon merken sie natürlich nichts, und ich zickzacke mich durch sich auftuende Lücken. Wieso startet eigentlich der 55-Minuten-Pacemaker in Block 3 ganz vorne? Und der für 50 Minuten weit vorne in Block 2, wo nur Leute starten sollen, die die Zeit längst drauf haben? Seltsam. Ich versuche, die Pace auf unter 5 Min/km zu bringen, aber das klappt erst auf KM 2. Ich überhole immer weiter, bis ich das alles auf knapp der Hälfte ziemlich anstrengend und doof finde. Zwar bin ich immer noch auf Bestzeitenkurs, aber es macht keinen Spaß. Im Zoo wird es dann richtig eng, und ich habe keine Lust mehr. Das Nashorn guckt in unsere Richtung, und ich habe den Verdacht, es findet uns vollkommen bescheuert. Ich werde langsamer – ok, das werden im Zoo wohl alle, aber ich habe ein Motivationstief. Ich hadere, ob ich jetzt versuchen sollte, das Tempo zu halten, oder ob es mir einfach egal ist. Einen halben Kilometer lang, ist es mir egal, aber dann bin ich doch wieder schneller. Bis Kilometer 8 ist die PB noch drin, dann fehlen plötzlich 3 Sekunden. Oh je, oh je. Und anstatt die Beine in die Hand zu nehmen, hadere ich erstmal eine Runde und werde noch ein bisschen langsamer. Auf der Schlossstraße renne ich zwar nochmal wie bekloppt – aber es reicht nicht mehr. Es fehlen 27 Sekunden – an der Bestzeit, zu sub 50 fehlt nochmal gut eine Minute. 

Fazit: Ambivalenz ist keine Einstellung an einen schnellen Lauf ranzugehen. Entweder rennen oder trödeln, aber nicht innerhalb eines Laufs viermal die Meinung ändern! Außerdem geht mir definitiv das Qäulgen ab, ich kann alleine einfach nicht beißen (auch keine ganz neue Erkenntnis). Sollte ich also mal wieder vorhaben, eine PB anzugehen, dann lieber nicht alleine, sondern ich suche mir wieder einen Hasen, der im richtigen Moment die Ansagen macht. 

Berlin: genau wie beim ersten Mal, nur anders

Mein zweiter Marathon in Berlin – der dritte überhaupt – war eigentlich genau wie der erste. Aber irgendwie auch ganz anders.

Gleich: ich bin sooo aufgeregt. Aber auch anders: ich habe wieder nach Plan trainiert, dieses Mal nach Marquardt, habe fast alle Lauf-ABC, Rumpf- und Koordinationsübungen gemacht, bin gut mit den Tempoeinheiten klar- und ohne Verletzung durch den Plan gekommen. Ich weiß auch schon, dass ich Marathon kann. Beim ersten Mal wusste ich das noch nicht, da war nicht nur Lampenfieber, sondern auch große Angst, es nicht zu schaffen. Dieses Mal weiß ich, ich schaffe das, aber es geht nicht mehr nur ums Ankommen, ich habe ein Ziel und das heißt 4:15. Plan B? Habe ich nicht.

Gleich: am Vorabend ist Jogmap-Treffen im Tomasa – aber anders: große Aufregung, weil der von uns reservierte Raum anderweitig vergeben ist, gleichzeitig kommen viel mehr Leute, als sich angekündigt haben – Stachel kämpft wie eine Löwin und siegt: am Ende dürfen wir doch in „unseren“ Raum, und es wird ein wunderbarer Abend. Alte und neue Bekannte, Nicknames, deren Blogs ich seit Jahren verfolge, und die nun einen echten Namen und ein Gesicht bekommen, Gespräche, Lachen, Essen, Trinken, und eine Verabredung mit fast allen für den nächsten Morgen an der Schweizer Botschaft. Auch anders ist, dass ich Besuch habe: Frau happy gibt sich die Ehre bei mir zu übernachten, das ist schön (nicht so schön ist, dass der Sprössling der Nachbarin oben etwas nachtaktiv ist, sorry, happy!).

Gleich ist das strahlende Wetter. Seit Tagen habe ich die Vorhersage verfolgt und mich auf goldenes Herbstlicht gefreut – so geht Berlinmarathon! Anders als vor zwei Jahren bleibt es aber kühl – ideales Laufwetter, es muss einfach toll werden! Im Startblock ist es noch kalt, das ist gleich. Mit Frau mainrenner stehe ich da, sie wird filmen (gibt’s das Ergebnis auf youtube?), die Ehrengäste werden begrüßt, aber in Startblock H (wie „Hinten“) sehen wir natürlich nichts. Die Musik ist wieder „Pirates of the Caribbean“, und auch wenn ich die Luftballontraube wie immer seit Jahren wunderbar finde, bin ich nicht so sentimental wie beim letzten Mal und muss ganz und gar nicht heulen. Es geht los. Hach, ist die Goldelse schön. Am großen Stern werden wir auch schon von renbueh, Schalk, Fairy, Stachel und ete69 angefeuert. Prima. Meine Versuche, gelegentlich touristisch wertvolle Informationen zu liefern geraten ziemlich lahm, sorry, Frau mainrenner. Bis in die Torstraße laufen wir gemeinsam, dann wird sie schneller, ich bleibe bei meinem Tempo, denn ich habe ja einen prima Plan A. Der Plan ist insofern super, dass ich, wenn ich einen glatten Sechserschnitt laufe, ganz leicht rechnen kann, weil dann alle fünf Kilometer eine halbe Stunde vergangen sein sollte. Dazu muss ich natürlich etwas schneller laufen als Garmine anzeigt, denn die findet wie üblich alles etwas weiter. Bloß gut, dass sich das so leicht rechnet, na, und damit das Rechnen leicht bleibt, muss ich einfach nur gleichmäßig laufen. So ungefähr (ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie ich das geschafft habe):

5 km: 00:30:09
10 km: 00:59:51
15 km: 01:29:26
20 km: 01:59:30
25 km: 02:29:08
30 km: 02:59:00
35 km: 03:28:44
40 km: 03:58:10

Es ist toll, die Strecke schon zu kennen. Ich freue mich auf die Karl-Marx-Allee, denn vor dem Kino International steht S. (meine langjährigste Supporterin, die schon meinen ersten Zehner anno 2009 bejubelt hat). Sie ist sehr leicht von weitem zu erkennen, denn ihre blonden Wuschellocken leuchten im Gegenlicht. Sie hat nicht nur mir zwei Gürkchen mitgebracht, sondern auch Sohn und Freund, und sie haben ein spitzenmäßiges Supporterplakat dabei, mit dem ausgesprochen motivierenden Text „Micha Micha Micha“ – finde ich super! Hat bestimmt auch noch ein paar andere Michas froh gemacht.

Der Springbrunnen am Straußberger Platz leuchtet und funkelt genau wie beim letzten Mal, auch auf den habe ich mich sehr gefreut, er ist einfach wunderschön. Und noch mehr Dinge sind genau wie beim ersten Mal: der Verpflegungspunkt in der Ritterstraße wird moderiert! Der Moderator findet es toll, dass wir alle noch lächeln, verspricht in dem Fall besonders guten Service, nimmt das aber gleich zurück und sagt, wir alle bekämen hier alles, was wir brauchen. Er kommt mir vor wie ein alter Bekannter. Am Kottbusser Tor spielt eine tolle Saz-Band, der Kottbusser Damm ist von Menschen gesäumt und gleich nach der Brücke steht M., die heute Geburtstag hat – leider konnte ich nicht mit rein feiern. Umso toller, dass sie jetzt da ist. Ich rufe ihr Glückwünsche zu und bin schon vorbei. An der Hasenheide steht noch ein S. und reicht mir eine salzige Kartoffel. Boah, ist die lecker! Davon hätte ich später gerne noch eine gehabt. Gleich danach sitzt am Rand eine grauhaarige Frau im Rollstuhl. Sie reckt uns Zeige- und kleinen Finger beider Hände entgegen und brüllt unaufhörlich „Rock’n’Roll – YEAH!!! Rock’n’Roll – YEAH!!!“ Ich bin sehr gerührt! Am Südstern herzt der Wirt vom „Mädchen ohne Abitur“ (große Empfehlung!) gerade einen Läufer, den ich aber nur von hinten sehe, so dass ich leider noch nicht weiß, ob das sein Kompagnon ist. An der Gneisenaustraße flötet eine Andencombo in Federschmuck „El Condor Pasa“ – kennen die wirklich nur ein Stück? Wie ein Kondor fühle ich mich nun doch nicht gerade.

Wenig weiter vor dem Passat-Reisebüro stehen S. und W. – genau wie beim ersten Mal. Ich rufe, sie winken und jubeln, schon vorbei. Yorckbrücken, dann Halbmarathon – das Rechnen ist immer noch leicht. Potsdamer Straße, Grunewaldstraße – hier gibt es eine Überraschung: tinadoro hat ihr Schild von vor zwei Jahren rausgekramt. Ich habe sie eine Weile nicht gesehen und freu mich wie blöd. Ich hangele mich von einer Supporterin zur nächsten, denn schon am Rathaus Schöneberg steht meine Kollegin M., die ein paar Schritte mitläuft und berichtet, dass knopf_13 schon vor einer Viertelstunde hier durchkam.

Genau wie beim ersten Mal sind unter der S-Bahnbrücke am Innsbrucker Platz die Steeldrums – Gänsehaut! – und gleich danach die WG mit den Lautsprecherboxen auf dem Balkon. Sie haben den ganzen Balkon mit den „Marathonstrecke – hier nicht parken“-Schildern der letzten Jahre geschmückt und spielen einen Spitzensoundtrack zum Marathon (viele haben ein Lied gehört, das gerade passte, Firlefanzus „immer weiter gehen“, bei mir war es was mit „Renn…“ – hmm, habe so gesucht, aber das Lied nicht gefunden, noch jemand?) – ich glaube, denen muss ich mal ein Blümchen vorbei bringen – und nach der Playlist fragen – die sind eine echte Institution.

Hauptstraße, Wiesbadener Straße, Südwestkorso, ich laufe einfach, lache die Zuschauer an, freue mich an den Bands, werde ab und zu mal mit Namen angefeuert, Lentzeallee – buäh, hier gibt’s die Powerbar-Gels, davon klebt wieder die ganze Straße. Letztes Mal hat hier mein Knie so schlimm geschmerzt, dass ich auf den Grünstreifen ausgewichen bin, weil der nicht so klebrig war. Heute geht es mir einfach nur gut, ich laufe wie ein kleines Uhrwerk. Am Wilden Eber stehen die Leute wieder in mehreren Reihen, aber die Musik ist gerade etwas lahm. Am Hohenzollerndamm sitzt ein etwa 14-jähriger Junge mit Schlagzeug vor einem großen Transparent „Jan’s Drum Station“ – alle Achtung, der Knabe trommelt, was das Zeug hält, und das vor großem Publikum. A propos Hohenzollerndamm: Was mir vorhin aufgefallen ist – ich sollte bei den Zeitmessmatten nicht immer auf die Uhr gucken. Das sieht im Video (und die Kameras stehen alle an den Zeitmessmatten) einfach blöd aus. So langsam werden die Beine etwas schwerer, aber mir tut nix weh, jedenfalls nicht richtig. Ich denke daran, wie schwer es beim letzten Mal war – kein Vergleich – etwas schwere Beine sind kein Grund langsamer zu werden. Lauf einfach, Du kannst das, das Rechnen soll leicht bleiben. Fehrbelliner Platz, Konstanzer Straße, schon Ku’damm. Leute, Jubel, Bands (zu viel Jazz dieses Jahr, könnte ich vielleicht mal eine ordentliche Punkband haben?), Sonnenschein. Hinter dem Nollendorfplatz reicht eine Frau Duplos aus einer Schachtel, ihr Begleiter bietet Cola an – so reizend, aber ich habe keinen Bedarf. Potsdamer Straße – ha, eine Steigung zur Potsdamer Brücke! Ach was, auch das zählt nicht. Danach standen letztes Mal die Beatboxer. Dieses Mal weiß ich, dass ich am Potsdamer Platz nach den Jogmap-Supportern Ausschau halten darf. Da sind sie! Sie sehen mich auch und jubeln – Danke!

Und dann kommt ein echtes Highlight: An der Leipziger Straße unter den Arkaden sehe ich Schalk, ich brülle, muss langsamer werden und nochmal brüllen, da sieht er mich, lacht und sagt, auf mich habe er gerade gewartet. Ui! Und dann begleitet er mich, sagt mir, wo ich die Kurven lieber außen nehmen soll, um nicht abbremsen zu müssen, versichert mir, ich sähe noch locker aus und rechnet, dass ich etwa bei 4:11 im Ziel sein müsse. Er unterhält mich, macht ein Foto, bringt mir Wasser vom letzten VP, ich fühle mich einfach umsorgt und verwöhnt. Kurz vor Unter den Linden schickt er mich mit der Aufforderung weiter, den Rest zu genießen. Wow, das war toll, vielen, vielen Dank, Schalk!

Und wie ich den Rest genieße: die Fußgängerschleuse passiere ich rechts, Brandenburger Tor – es macht auch beim zweiten Mal noch Gänsehaut hindurch zu laufen! Die Zielgerade – die Luft reicht zum Beschleunigen, aber das rechte Bein krampft und sackt fast weg. Oh hoppla, dann einfach Tempo halten, strahlen, laufen, strahlen, laufen, laufen – Ziel! Ich halte die Uhr an und kann es kaum glauben, da steht eine 4:10 drauf. Mir wird eine Medaille umgehängt und ich habe meinen zweiten Berlinmarathon geschafft. Eigentlich war er genau wie der erste: wunderbar, berührend, beeindruckend, nicht ganz so sentimental (musste beim Zieleinlauf auch nicht heulen) – nur leichter.

Es war haargenau das, was ich an dem Tag laufen konnte – mehr, als ich mir vorgenommen hatte, anstrengend, aber ohne Quälerei. Andererseits hätte ich nicht eine Minute schneller sein können (da bin ich so sicher, weil ich im Ziel fürchterliche Krämpfe in beiden Beinen hatte – aber eben erst im Ziel, nicht vorher).

Hätte ich vorher einen Wunsch frei gehabt: genau so hätte mein Marathon sein sollen.

Wien

Vorspann 1 – mit Erläuterungen zum Thema Hochstapelei

Dass ich dieses Jahr zum Hermann will, ist schon lange klar, spätestens, seit der Kollege aus Bielefeld uns nach dem CeBIT-Run 2012 praktisch alle eingeladen hat (nur sind die anderen Kollegen inzwischen alle abgesprungen). Nun hat aber Titouli sich zum Wien-Marathon angemeldet und gefragt, ob ich nicht mitkommen möchte. EIGENTLICH will ich erst gar nicht – und gegen Marathon spricht nicht zuletzt der Hermann. Aber in Wien kann man ja auch Halbmarathon laufen, und vielleicht wäre das ja ganz schön. Als ich mich anmelden will, ist der Halbmarathon ausverkauft. Am selben Tag postet Bbubu auf Jogmap, dass er einen Gutschein für Wien übrig hätte, und irgendwie bin ich vom Glück geküsst, denn ich bin die erste, die ihn haben will und bekomme ihn auch – hier noch einmal: Danke, @Bbubu, vielen lieben Dank! Da steh‘ ich nun, mit einem Startplatz. Klar kann man damit auch HM laufen, aber irgendwie reizt es mich doch… Weil ich ja durchaus Erfahrung mit Überlastung habe, entscheide ich mich für den ganz langsamen Marquardt-Plan, mit viel Zusatzsport, Schwimmen, Rumpfstabi, Lauf-ABC und halte mich recht ordentlich dran. Ich kündige allen an, dass ich sofort aufhören will, wenn es irgendwo ziept. Aber es ziept nicht. Ehrlich gesagt, verrate ich einigen Leuten auch gar nicht erst, dass ich mit dem Gedanken an die volle Strecke spiele… Aber die Vorbereitung läuft, trotz Eis und Schnee, trotz eines kleinen Infekts. Zum Hermann sind wir natürlich auch gemeldet – immer mit etwas schlechtem Gewissen wegen der Gräten und immer mit dem Gefühl eigentlich eine Hochstaplerin zu sein.

Vorspann 2 – Ausflug!

Im Nachtzug nach Wien reisen ist toll – ich liebe Bahn fahren, und ein Schlafwagen, in den auf der Strecke nach Dresden erstmal die untergehende Sonne scheint, ist einfach großartig. Am Freitag früh sind wir da, holen die Startunterlagen, betreiben moderaten Tourismus (viel Kaffeehaus, wenig Strecke) und kommen bei Titoulis Ex-Kollegen M. ganz zentral unter. Der ist nebenbei noch Jazzmusiker und hat am Samstag zu einem kleinen Hauskonzert geladen, denn die andere Läuferin, die auch bei ihm zu Besuch ist, kann ganz wunderbar singen. Geht’s uns gut!

Hauptteil – Marathon

Auch in Wien fahren am Sonntag früh fast nur Menschen mit den gewissen Kleiderbeuteln in der U-Bahn. Schon da kommt ein wunderbares Gefühl auf, es ist Marathon. Und wir fahren hin. Das Wetter ist traumhaft, die Kulisse vor der UNO-City fantastisch, und dann kommt, während wir unseren Kram in den Kleiderbeuteln verstauen, eine Person mit einem kleinen Schild „Top Athletes“ und direkt danach Haile und all die anderen Spitzenläuferinnen und -läufer auf dem Weg ins VIP-Zelt. Wir Hobbyläufer applaudieren und ich habe schon wieder Gänsehaut. Als die Beutel abgegeben sind, fragt mich Titouli, wo eigentlich meine Uhr sei – er denkt, ich hätte sie eben mit den Klamotten abgegeben und müsse sie halt zurück holen. Aber nein, so ist es nicht, ich Rind hab‘ sie tatsächlich auf dem Nachtschränkchen bei M. liegen gelassen. Arme Garmine, schon wieder allein zu Haus.

Wir stellen uns in den schwarzen Startblock (das wäre in Berlin H wie „hinten“), wo leider von der Musikbeschallung, die es weiter vorne gibt, fast nichts zu hören ist. Da hätten sie aber mal ein paar Lautsprecher mehr spendieren können, zumal die Musik hier wirklich anders ist als anderswo – Klassik, sehr stilvoll! Im Schatten ist es noch kalt. Irgendwann geht es los, das finde ich etwas unspektakulär, so ohne Musik und Luftballons, als es aber über die Donaubrücke geht, bin ich doch ziemlich ergriffen. Am Eingang zum Prater stehen seltsame Schilling-Nostalgiker mit einem „Raus-aus-Europa“- und einem „Marathon statt Banken-Run“-Transparent (hö?) Von solchen Leuten will ich mich ja nicht vereinnahmen lassen und rufe ihnen ein herzliches „Europa!“ zu, einige Läufer lachen. Es geht durch den Prater – noch gibt es keine Blätter an den Bäumen, aber Knospen, die aussehen, als würden sie jeden Moment explodieren. Wir sind eher langsam unterwegs, aber das soll so sein. Genießen und gesund ankommen.

Zuschauer gibt es nicht sehr viele, auch nicht, als wir am Donaukanal Richtung Innenstadt laufen, aber da kommt uns die Spitze entgegen. Wahnsinn, wie die fliegen! Die sind schon bei KM 28 oder so, wir haben gerade mal 9 zurückgelegt. Gelegentlich steht da ein Wagen mit Lautsprechern drauf, hmm, die Live-Musik-verwöhnte Berlinerin reißt sich zusammen und findet auch Konserve fein. In der Innenstadt wird es etwas belebter. An der großen Kreuzung Schwarzenbergplatz spielen sie Walzer – ich versuche Laufschritt und Walzertakt zu vereinbaren, aber das klappt eher bedingt. Vor der Oper, wo die große Leinwand hängt, und wo eine Trommelgruppe trommelt, drängt sich das Publikum, hier werden wir angefeuert! Am Naschmarkt biegt Titouli in eine öffentliche Toilette ab – das will ich auch, aber die Damenabteilung hat geschlossen. Ich fühle mich etwas diskriminiert und laufe weiter. Auf der linken Wienzeile steht unser Gastgeber fotografiert und jubelt uns zu – eigentlich muss der heute am Schreibtisch sitzen, er ist extra für uns an die Strecke gekommen. Danke! Es geht Richtung Schönbrunn. Weil die Straße sich schlängelt, sehen wir den langen bunten Läuferlindwurm vor und hinter uns. Naja, eher vor uns. Fast alle um uns herum haben die Startnummern des HM – ob nachher wohl überhaupt noch jemand übrig ist, der mit uns die zweite Hälfte laufen wird?

Am Staffelwechselpunkt sehe ich ein freies Toitoi (so heißen die Dixies hier). Titouli geht solange weiter, bis ich ihn wieder eingeholt habe. Vom Schloss Schönbrunn ist nichts zu sehen, dafür bekomme ich mal wieder Seitenstiche. KM 17-19 sind etwas mühsam, ich schnaufe und versuche sie wegzuatmen, dann geht’s wieder. Da ist auch schon die Hälfte vorbei und die Halben biegen ab durchs Heldentor. Titouli will noch gar nicht hinschauen – ich schon.

Es wird leerer auf der Strecke, wir laufen den Ring weiter, und irgendwann wieder am Donaukanal Richtung Prater. Links steht ein Schild 28, rechts, wo sie uns schon entgegenkommen eins mit einer 38. Au weia, es wird noch über eine Stunde dauern, bis wir wieder hier sind. Doch, die auf der Gegenfahrbahn sind merklich schneller als wir unterwegs. Ein bisschen beneide ich sie. Am Straßenrand steht ein Mann mit Notenständer und spielt Akkordeon – endlich wieder einmal Live-Musik, danke! Ich entwickle eine Theorie, die geht so: wenn der Marathon erst bei KM 30 anfängt, ein Zehner aber immer geht, dann müssten die Kilometer 30-32 die schlimmsten sein, und danach müsste es wieder leichter gehen. Ich versuche das zu beobachten.

Erstmal sind sie wirklich schlimm: zuerst die blöde kleine Wendestrecke vor dem Ernst-Happel-Stadion, dann die lange Wendestrecke auf der Praterhauptallee. Irgendwo habe ich was von schattigen Praterbäumen gelesen. So ist es aber nicht. Zwar kommt es uns vor, als wären die Knospen noch ein bisschen dicker als vorhin, Schatten spenden sie aber immer noch keinen. Dafür hängen an den Bäumen Lautsprecher, die alle dieselbe Musik spielen. Das ist toll! Wir laufen durch die Musik. Trotzdem zieht es sich ziemlich bis zu diesem ollen Lusthaus, wo wir endlich wenden dürfen. Zum Glück kommen auch uns noch Läufer entgegen, ich dachte schon, hinter uns kommt nichts mehr. Als ich das letzte Gel aus der hinteren Hosentasche fummle, stelle ich fest, dass die Tüte geplatzt ist. Der Notgeldschein, das Ticket für den Nahverkehr und das Gel bilden eine klebrige Einheit. Meine Güte, das Zeug klebt wie Hölle. Irgendwie bekomme ich die Geltüte dann doch raus und leere sie. Die Hände kleben jetzt ebenfalls ganz fies, buäh.

Bin ich froh, als wir wieder bewohntere Gegenden belaufen und ich mir an einer Wasserstelle kurz die Hände waschen kann. Der Mann mit Akkordeon ist immer noch da und spielt. Die Zuschauer, die jetzt noch da sind, sind übrigens großartig. Wir werden so direkt und persönlich angefeuert, wunderbar. Ich beschließe, an meine Theorie zu glauben, und es funktioniert. Die Beine sind längst nicht mehr so schwer wie eben im Prater, ich muss alle, die uns zujubeln anstrahlen, mich bedanken, zurückjubeln und bin einfach total marathongeflasht. Es macht so viel Spaß, die Helferinnen an den Wasserstellen stehen jetzt mitten auf der Fahrbahn, um uns die Becher direkt auf der Ideallinie zu servieren. Nochmal wird Walzer gespielt, diesmal muss ich mich sogar ein paarmal drehen. Es ist nicht mehr weit, es ist nicht mehr weit, ich habe das Gefühl, ich fliege gleich – hat schon mal wer fliegende Schnecken gesehen? Gibt’s echt! Nochmal Oper, nochmal Trommeln, nochmal Jubel! Wow, was machen die hier noch alle? Sind die wegen uns so lange dageblieben? Und da ist endlich die Abzweigung auf den Heldenplatz, der rote Teppich ist hier gelb, gemeinsam fliegen wir nebeneinander durchs Ziel.

Nein, wir sind nicht wirklich geflogen – 4:53 ist nicht schnell. Aber das Gefühl war einfach trotzdem da.

Abspann

Medaille (die ist wirklich toll, sternförmig und mit einem Glitzerstein!), Erdinger, Kleiderbeutel, Belohnungskaffee im Palmenhaus, U-Bahn, Abendessen mit M., Rückfahrt am Montag im Zug (sehr erholsam, kann ich nur empfehlen, auch wenn der Speisewagen keinen Strom hatte und wir nur Salat bekamen), Regenerieren. Das war ein wunderbarer Ausflug nach Wien.

Und jetzt? Wie geht es dem Gestell? Eigentlich gut, aber ganz sicher bin ich nicht, ob es eine gute Idee ist, am Sonntag den Hermann zu laufen. Ein bisschen Hochstapelei halt – oder den Hals nicht voll kriegen. Morgen werde ich noch einen kleinen Test laufen, ob alles sich so anfühlt, wie es soll. Drückt mir die Daumen.