Laufen auf Reisen – Höhen- und Feinstaubtraining

Vor dem Schlafengehen haben wir diskutiert: kann man wirklich überall laufen? Ich glaube schon, und habe die Idee, von hier aus loszulaufen, was B. und H. vollkommen abwegig finden. Der Verkehr, der Smog, das Gedränge. Ich mag ja urbane Läufe und finde es toll, eine Stadt zu Fuß zu erforschen, aber die beiden halten das für unmöglich und H. bietet sogar an, nochmal nach Entoto rauszufahren. Aber ich möchte auch die Stadt kennen lernen und außerdem nicht zu viele Umstände machen. Irgendwann kommen sie auf folgende Idee: H. muss zu seiner Metallwerkstatt, die ihm schon den tollen Bullcatcher an seinen Landrover geschweißt hat, wir bringen den Kurzen in den Kindergarten, dann kann ich an der Embassy Road entlang zwischen zwei großen Kreisverkehren so lange hin und her laufen, bis es mir reicht. Die Embassy Road ist immerhin ein bisschen Richtung Stadtrand gelegen, und nicht ganz so verstopft wie die großen Straßen hier in der Umgebung.

So machen wir es, der Kleine wird im deutschen Kindergarten abgeliefert, und wir fahren in die Werkstatt. H. fährt auf dem Weg dorthin die Embassy Road entlang und guckt auf den Tacho, wie lang sie eigentlich ist. Ca. zweieinhalb Kilometer. Das Wasser bleibt im Auto, ich werde nach der ersten Runde einen Verpflegungsstop einlegen.

An der Embassy Road sind nicht nur die Botschaftsgelände von Uganda, Belgien, Kenia, Großbritannien, Russland, das British Council und das Institute for Biodiversity, sondern dazwischen auch viele kleine Geschäfte und Werkstätten, Haltestellen für Minibusse, Schuhputzer und was weiß ich alles. Prima, so mag ich Tourismus: die Leute denken, sie hätten was zu gucken, dass da eine Auswärtige an der Hauptverkehrsstraße entlang rennt, dabei werden sie selber auch beguckt, ohne es richtig zu bemerken. So haben alle was davon. Das heißt natürlich auch, dass ich keine Kamera mitnehme, auch wenn ich tausend mögliche Bilder sehen werde. Aber so ist das eben, dann muss ich umso genauer hinschauen, um sie später im Kopf wieder zu finden.

Schon die Metallwerkstatt ist toll, da liegt unglaublich viel Schrott herum, aber die Jungs machen richtig gute Sachen daraus, und das Zubehör, das sie für Halwards Auto gebastelt haben, ist nach dem Biegen, Schweißen und Anmalen gar nicht mehr als Ex-Schrott oder Recycling zu erkennen. 

Ich laufe los. Gleich nebenan ist ein Sargmacher. Die Särge sind aus einfachen Brettern gezimmert, aber dann mit glitzerndem Brokatstoff in allen möglichen Farben bezogen. Schön. Außerdem gibt es bunten Grabschmuck. Gleich nebenan sind eine Möbelwerkstatt, dann ein Fleischer. Große Stücke vom Rind sehen ziemlich gut abgehangen aus. Als ich an einem Frisiersalon vorbei komme, merke ich erst, als ich schon fast vorbei bin, dass der Friseur, der noch nichts zu tun hat, im Takt meiner Schritte klatscht. Im Schatten der Botschaftsmauer von Uganda liegt eine ganze Herde Ziegen. Danach gibt es wieder Geschäfte. An einer Haltestelle für Minibusse – von denen gibt es unglaublich viele, sie sind unten blau, oben weiß, genau wie die Lada-Taxen – arbeiten viele Schuhputzer. Die Geschäfte gehen nicht schlecht, und ich bin erstaunt, dass die Leute sich nicht nur Lederschuhe, sondern auch Plastikturnschuhe und sogar Stoff-Chucks putzen lassen. Meine Laufschuhe wollen sie natürlich auch, aber das kommt nicht in Frage, die bleiben in Bewegung.

Die Britische Botschaft wünscht mit zwei riesigen Plakaten auf Englisch und Amharisch den äthiopischen Athleten „Good Luck“ für die olympischen Spiele in London. Wobei ich mich kurz frage, ob es vielleicht angebrachter wäre, „Viel Erfolg“ zu wünschen. Am besten wohl beides. Einer der Torwächter ruft mir „Very good“ zu.

Vor einem verschlossenen Eisentor stehen Mädels und Jungs in türkisfarbenen Schuluniformen. Die Blicke, die ich von einigen ernte, erinnern mich sehr an die von Berliner Teenies, die etwas unendlich albern finden. Andere schauen freundlich-interessiert. Ich laufe weiter bis zur Brücke über einen kleinen Fluss und kehre dort, kurz vor dem zweiten Kreisverkehr um. Unten ist eine Art Biergarten, dort wird Reggae gespielt. Gerade geht das Schultor auf, es ist neun Uhr, und die Schülerinnen und Schüler verschwinden schnell darin, noch bevor ich zum zweiten Mal vorbei bin. 

Der gesamte Weg ist ein langgestreckter Hügel, das heißt, es geht also erst einmal wieder bergauf. Über der Hügelkuppe ist die gelblichbraune Smogschicht zu erkennen. Aber das gilt noch als erträglich, denn in der Nacht hat es wieder geregnet, die Berge der Umgebung sind zu erkennen, das ist wohl nicht immer so. Dennoch finde ich den Anblick einigermaßen eklig. Andererseits nicht verwunderlich, bei dem, was aus vielen Auspuffen so in die Gegend geblasen wird. Keine Ahnung, ob es an der Höhe oder am Feinstaub liegt, die Lunge fiept jedenfalls wieder ganz schön vor Anstrengung.

Einige Leute erkennen mich auf dem Rückweg wieder und grüßen wie alte Bekannte: der Torwächter, der Friseur, der wieder klatscht, später der Sargmacher. Ein junger, extrem gutaussehnder Mann fängt laut an zu lachen „Hahaha, Tourist! Bravo, Bravo!“ Na besten Dank auch, ich erkenne Spott, wenn er mir so deutlich begegnet, aber echt mal, wenn Du mich für bekloppt hältst – da kenne ich noch ganz andere. Ein ganz alter Man versucht es auf Italienisch: „Bon giorno, forza, forza.“ bei ihm bin ich aber sicher, dass er es freundlich meint.

Nach einem kurzen Wasserstopp in der Metallwerkstatt, geht es auf die zweite Runde. Eigentlich würde ich gerne auch die Nebenstrasen erkunden, aber die meisten sind nur kurze, steile Stichstraßen, wenige hundert Meter lang, wenn überhaupt. An einer biege dennoch ab und laufe auf eine dieser runden Kirchen zu. Es geht steil bergauf, an beiden Seiten sind Stände mit Religionsbedarf, Heiligenbildchen, religiöse Musik und lustigerweise auch große bunte Brokatsonnenschirme. Keine Ahnung, weshalb es die ausgerechnet hier gibt, sie lösen aber einen akuten Habenwollen-Anfall aus. Egal, ich kann gerade keinen Schirm tragen, sie sind wahrscheinlich eh zu groß für meinen Koffer und die paar Birr, die ich in der Tasche habe, reichen bestimmt sowieso nicht. Ich widerstehe also dem Impuls einen Spontankauf zu tätigen und laufe weiter auf die Kirche zu. Auch hier wird das Tor von einem Uniformierten bewacht. Er versteht Englisch, zwar nicht so ganz, warum ich um die Kirche rennen will, aber er hat auch nichts dagegen. Einige Frauen fegen den Hof, sonst ist es ruhig und grün unter Eukalyptusbäumen. Ein Tor führt zu einem Friedhof, aber den lasse ich aus. Der Hof ist klein, schon bin ich um den Kirchenbau herum und kann es jetzt bergab auch mal ein bisschen laufen lassen. 

Also doch wieder Embassy Road. Auch die zweite Runde macht Spaß, es gibt Ähnliches wie vorher in Varianten zu sehen. Eine Ziegenherde wird jetzt in meine Richtung getrieben, die Tiere erschrecken ein bisschen, als ich überhole. An der Bushaltestelle steht ein Mann mit einer einzelnen Ziege. Damit sie nicht wegläuft, hält er ihr Vorderbein hoch, das sieht aus, als würden die beiden Hand in Hand auf den Bus warten. Der Wächter bei den Briten muss lachen, als ich zum dritten Mal vorbei komme, beim vierten Mal kündige ich an, dass es das jetzt war. Der Friseur ist inzwischen mit Kundschaft beschäftigt. Nach gut elf Kilometern in einer Stunde und neun Minuten bin ich wieder bei den Metallern und kann im Schatten ein bisschen ausruhen und ihnen dann noch eine Weile beim Arbeiten zuschauen.

Laufen auf Reisen – Höhentraining

Barbara und Halward sind wunderbar. Sie haben ein Herz für ihre laufende Besucherin und schlagen vor, nach dem Frühstück in den Entoto Natural Park zu fahren, damit sie mit dem Kleinen und den beiden Hunden spazieren und ich laufen gehen können. Es ist Sonntag, der Verkehr nicht allzu schlimm, es ist wie Kino, durch die erste afrikanische Stadt meines Lebens zu fahren. Noch irgendwie nicht ganz real. Und aufregend!

Von der Straße in die Berge gibt es Aussicht auf die Stadt. Halward parkt den Wagen und grummelt ein bisschen was von Schutzgelderpressung, denn er muss den kleinen Jungs Geld geben, damit sie aufs Auto aufpassen, wobei es außer ihnen selbst niemanden gibt, vor denen es beschützt werden müsste.

Ich trabe los. Wir sind auf 2600m Höhe. Dass ich das nicht gewohnt bin, merke ich schon daran, dass ich seit der Ankunft gestern Abend leichte Kopfschmerzen habe. Den Pulsgurt habe ich nicht dabei, aber das Herz klopft bis in die Ohren. Höhentraining nennt man das wohl. Ich soll einfach dem Weg folgen, und wenn ich genug habe, zurück kommen. Nach wenigen hundert Metern teilt sich der Weg. Links geht es weiter im Halbschatten des Eukalyptuswalds, rechts in weitem Bogen über eine große Wiese ins Tal. Ein paar Leute kommen entgegen, ich will nach dem Weg fragen. Englisch? Eher rudimentär. Der Mann fragt mich „Sport?“ „Yes, but which way is nice?“ Er hebt den Daumen „Good!“ Ich versuche zu erklären, dass dort hinten meine Freunde sind, und er ihnen bitte sagen soll, dass ich den linken Weg nehme. „Friends, yes, left.“ Na dann, vielleicht hätten wir doch eine Zeit ausmachen sollen.

Es hat geregnet, zwischen den duftenden Eukalyptusbäumen sprießt grünes Gras. Außerdem ist es schön da im Wald. Vielleicht war das einmal ein Fahrweg, er ist aber ziemlich vom Regen ausgewaschen, geradezu zerklüftet, hier kommt kein Fahrzeug durch. Die Erde ist wunderschön dunkelrot, dazwischen ist stellenweise der Untergrund felsig. Und wurzelig. Wie heißt das Gegenteil eines Erdrutsches? Ich meine, wenn nicht Erde auf die Straße rutscht, sondern die Straße wegrutscht, hat das einen Namen? Ein Pfad führt um die Abbruchstelle durch den Wald. Ein Mann in quietschgrünen Gummistiefeln treibt zwei Esel vor sich her. Ich schnaufe wie eine alte Lok, obwohl ich nur langsam trabe. Eine gute Viertelstunde soll reichen, dann müssen die anderen auch nicht so lange auf mich warten. Der Weg ist wellig, noch diesen Hügel hoch, dann kehre ich um. Eine ältere Frau kommt mir entgegen, sie hat ein traditionelles Kleid an und ein schön gewebtes Tuch um Kopf und Schultern geschlungen. Ich trabe an ihr vorbei, grüße freundlich, und wende wenige Meter weiter. Als ich wieder an ihr vorbei komme, lacht sie und läuft ebenfalls los, einige Meter neben mir her, dabei redet sie unaufhörlich auf mich ein. Ich verlangsame und wir gehen gemeinsam weiter – die Gehpause kann ich gut gebrauchen, und schließlich ist das meine erste Unterhaltung mit einer einheimischen Person, wenn ich die kurze von vorhin nicht mitzähle. Zumindest, wenn man nicht darauf besteht, dass bei einer Unterhaltung die Beteiligten eine gemeinsame Sprache sprechen sollten. Ich verstehe kein Wort amharisch, sie keines englisch. Das macht nichts, ich finde sie sehr sympathisch. Nach ein paar Minuten geben wir uns die Hand, sie drückt meine an ihre Wange und streicht mir mit der anderen über die Schulter. Ich sage „Bye-bye“, sie zu meiner Überraschung „Ciao“ – Hurra, ein gemeinsames Wort, begeistert rufe ich Ciao zurück und laufe wieder los. Sie ruft mir noch ein paar recht fröhlich klingende Sätze hinterher, aber soweit ist es mit meinem amharisch immer noch nicht her (B. erklärt mir später, dass das Wort Ciao tatsächlich seit der kurzen italienischen Besatzungszeit verwendet wird). Auf dem Rückweg geht es mehr abwärts als aufwärts, dennoch bin ich nach fünfeinhalb Kilometerchen ziemlich aus der Puste. Aber auch sehr zufrieden mit meinem ersten Lauferlebnis in der Fremde.