Der Müllbeutel

Auf dem Heimweg vom Jogmap-Pastaessen (sehr nett wieder einmal!) fällt es mir wieder ein – es soll kalt werden morgen früh, und wir haben keine großen Müllbeutel mehr zu Hause. Bei EDEKA am Südstern brennt noch Licht, also nix wie rein. Verblüfft stelle ich fest, dass das Regal vollkommen leergekauft ist, weder 60l- noch 120l-Beutel sind noch da. Ich suche einen Verkäufer und frage, ob es vielleicht noch heimliche Vorräte gibt. Nee, gibt’s nicht. Ich bin hartnäckig: „Wie kann es denn sein, dass ausgerechnet Müllbeutel alle sind?“ Er vermutet Berlin-Marathon, Flaschensammler. Ich so „Na, zum Marathon möchte ich auch, aber nicht zum Flaschensammeln. Ich würde mir gerne Löcher in einen Müllsack schneiden und den dann im Startblock überziehen, damit mir vor dem Start nicht zu kalt ist.“ Der Mann verschwindet hinter einer Trennwand, kommt mit einer Rolle großer Müllbeutel zurück, reißt einen ab, prüft, ob er auch nicht kaputt gegangen ist, schenkt ihn mir und wünscht noch viel Spaß beim Marathon. Boah, ist das nett! Ich bedanke mich herzlich und radel schnell nach Hause.

Dort sitzen alle noch in der Küche: die Mitbewohnerinnen, Bruder, Schwägerin und Nichte. Ich erzähle die Müllbeutelgeschichte und alle finden EDEKA toll. Die minderjährige Mitbewohnerin schnappt sich den Müllbeutel und fragt, ob sie den mit der Nichte zusammen schön machen dürfe. Meinetwegen, sage ich leichtsinnig, und die beiden verschwinden in ihrem Zimmer. Es dauert lange. Eigentlich möchte ich früh ins Bett und frage irgendwann, ob ich mir schon mal die Zähne putzen kann. Nein, heißt es, das Model sei gleich soweit, ich soll noch warten.

Auftritt: Die Nichte im Müllbeutel, der vorne mit bunter Acrylfarbe bemalt und mit vielen bunten Federn beklebt ist. Aus dem runden Teil, das sie als Halsloch ausgeschnitten haben, wurde eine passende Kopfbedeckung, dazu gibt es noch einen gelben Pappschnabel.

Ich: „… und in dem Teil soll ich mich in den Startblock trauen?“ Die kleine Mitbewohnerin breit grinsend: „Du hast kein anderes!“ Was ja nun mal stimmt. Die große Mitbewohnerin grinst auch „Damit bist Du so schnell wie ein Papagei.“

Kopfbedeckung und Schnabel habe ich zu Hause gelassen, aber den Müllbeutel habe ich angezogen. Er hat gut funktioniert. Und weil renbueh es sich gewünscht hat, hier der Beweis:

Der Müllbeutel

P.S.: Der Marathon war auch schön.

Berlin: genau wie beim ersten Mal, nur anders

Mein zweiter Marathon in Berlin – der dritte überhaupt – war eigentlich genau wie der erste. Aber irgendwie auch ganz anders.

Gleich: ich bin sooo aufgeregt. Aber auch anders: ich habe wieder nach Plan trainiert, dieses Mal nach Marquardt, habe fast alle Lauf-ABC, Rumpf- und Koordinationsübungen gemacht, bin gut mit den Tempoeinheiten klar- und ohne Verletzung durch den Plan gekommen. Ich weiß auch schon, dass ich Marathon kann. Beim ersten Mal wusste ich das noch nicht, da war nicht nur Lampenfieber, sondern auch große Angst, es nicht zu schaffen. Dieses Mal weiß ich, ich schaffe das, aber es geht nicht mehr nur ums Ankommen, ich habe ein Ziel und das heißt 4:15. Plan B? Habe ich nicht.

Gleich: am Vorabend ist Jogmap-Treffen im Tomasa – aber anders: große Aufregung, weil der von uns reservierte Raum anderweitig vergeben ist, gleichzeitig kommen viel mehr Leute, als sich angekündigt haben – Stachel kämpft wie eine Löwin und siegt: am Ende dürfen wir doch in „unseren“ Raum, und es wird ein wunderbarer Abend. Alte und neue Bekannte, Nicknames, deren Blogs ich seit Jahren verfolge, und die nun einen echten Namen und ein Gesicht bekommen, Gespräche, Lachen, Essen, Trinken, und eine Verabredung mit fast allen für den nächsten Morgen an der Schweizer Botschaft. Auch anders ist, dass ich Besuch habe: Frau happy gibt sich die Ehre bei mir zu übernachten, das ist schön (nicht so schön ist, dass der Sprössling der Nachbarin oben etwas nachtaktiv ist, sorry, happy!).

Gleich ist das strahlende Wetter. Seit Tagen habe ich die Vorhersage verfolgt und mich auf goldenes Herbstlicht gefreut – so geht Berlinmarathon! Anders als vor zwei Jahren bleibt es aber kühl – ideales Laufwetter, es muss einfach toll werden! Im Startblock ist es noch kalt, das ist gleich. Mit Frau mainrenner stehe ich da, sie wird filmen (gibt’s das Ergebnis auf youtube?), die Ehrengäste werden begrüßt, aber in Startblock H (wie „Hinten“) sehen wir natürlich nichts. Die Musik ist wieder „Pirates of the Caribbean“, und auch wenn ich die Luftballontraube wie immer seit Jahren wunderbar finde, bin ich nicht so sentimental wie beim letzten Mal und muss ganz und gar nicht heulen. Es geht los. Hach, ist die Goldelse schön. Am großen Stern werden wir auch schon von renbueh, Schalk, Fairy, Stachel und ete69 angefeuert. Prima. Meine Versuche, gelegentlich touristisch wertvolle Informationen zu liefern geraten ziemlich lahm, sorry, Frau mainrenner. Bis in die Torstraße laufen wir gemeinsam, dann wird sie schneller, ich bleibe bei meinem Tempo, denn ich habe ja einen prima Plan A. Der Plan ist insofern super, dass ich, wenn ich einen glatten Sechserschnitt laufe, ganz leicht rechnen kann, weil dann alle fünf Kilometer eine halbe Stunde vergangen sein sollte. Dazu muss ich natürlich etwas schneller laufen als Garmine anzeigt, denn die findet wie üblich alles etwas weiter. Bloß gut, dass sich das so leicht rechnet, na, und damit das Rechnen leicht bleibt, muss ich einfach nur gleichmäßig laufen. So ungefähr (ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie ich das geschafft habe):

5 km: 00:30:09
10 km: 00:59:51
15 km: 01:29:26
20 km: 01:59:30
25 km: 02:29:08
30 km: 02:59:00
35 km: 03:28:44
40 km: 03:58:10

Es ist toll, die Strecke schon zu kennen. Ich freue mich auf die Karl-Marx-Allee, denn vor dem Kino International steht S. (meine langjährigste Supporterin, die schon meinen ersten Zehner anno 2009 bejubelt hat). Sie ist sehr leicht von weitem zu erkennen, denn ihre blonden Wuschellocken leuchten im Gegenlicht. Sie hat nicht nur mir zwei Gürkchen mitgebracht, sondern auch Sohn und Freund, und sie haben ein spitzenmäßiges Supporterplakat dabei, mit dem ausgesprochen motivierenden Text „Micha Micha Micha“ – finde ich super! Hat bestimmt auch noch ein paar andere Michas froh gemacht.

Der Springbrunnen am Straußberger Platz leuchtet und funkelt genau wie beim letzten Mal, auch auf den habe ich mich sehr gefreut, er ist einfach wunderschön. Und noch mehr Dinge sind genau wie beim ersten Mal: der Verpflegungspunkt in der Ritterstraße wird moderiert! Der Moderator findet es toll, dass wir alle noch lächeln, verspricht in dem Fall besonders guten Service, nimmt das aber gleich zurück und sagt, wir alle bekämen hier alles, was wir brauchen. Er kommt mir vor wie ein alter Bekannter. Am Kottbusser Tor spielt eine tolle Saz-Band, der Kottbusser Damm ist von Menschen gesäumt und gleich nach der Brücke steht M., die heute Geburtstag hat – leider konnte ich nicht mit rein feiern. Umso toller, dass sie jetzt da ist. Ich rufe ihr Glückwünsche zu und bin schon vorbei. An der Hasenheide steht noch ein S. und reicht mir eine salzige Kartoffel. Boah, ist die lecker! Davon hätte ich später gerne noch eine gehabt. Gleich danach sitzt am Rand eine grauhaarige Frau im Rollstuhl. Sie reckt uns Zeige- und kleinen Finger beider Hände entgegen und brüllt unaufhörlich „Rock’n’Roll – YEAH!!! Rock’n’Roll – YEAH!!!“ Ich bin sehr gerührt! Am Südstern herzt der Wirt vom „Mädchen ohne Abitur“ (große Empfehlung!) gerade einen Läufer, den ich aber nur von hinten sehe, so dass ich leider noch nicht weiß, ob das sein Kompagnon ist. An der Gneisenaustraße flötet eine Andencombo in Federschmuck „El Condor Pasa“ – kennen die wirklich nur ein Stück? Wie ein Kondor fühle ich mich nun doch nicht gerade.

Wenig weiter vor dem Passat-Reisebüro stehen S. und W. – genau wie beim ersten Mal. Ich rufe, sie winken und jubeln, schon vorbei. Yorckbrücken, dann Halbmarathon – das Rechnen ist immer noch leicht. Potsdamer Straße, Grunewaldstraße – hier gibt es eine Überraschung: tinadoro hat ihr Schild von vor zwei Jahren rausgekramt. Ich habe sie eine Weile nicht gesehen und freu mich wie blöd. Ich hangele mich von einer Supporterin zur nächsten, denn schon am Rathaus Schöneberg steht meine Kollegin M., die ein paar Schritte mitläuft und berichtet, dass knopf_13 schon vor einer Viertelstunde hier durchkam.

Genau wie beim ersten Mal sind unter der S-Bahnbrücke am Innsbrucker Platz die Steeldrums – Gänsehaut! – und gleich danach die WG mit den Lautsprecherboxen auf dem Balkon. Sie haben den ganzen Balkon mit den „Marathonstrecke – hier nicht parken“-Schildern der letzten Jahre geschmückt und spielen einen Spitzensoundtrack zum Marathon (viele haben ein Lied gehört, das gerade passte, Firlefanzus „immer weiter gehen“, bei mir war es was mit „Renn…“ – hmm, habe so gesucht, aber das Lied nicht gefunden, noch jemand?) – ich glaube, denen muss ich mal ein Blümchen vorbei bringen – und nach der Playlist fragen – die sind eine echte Institution.

Hauptstraße, Wiesbadener Straße, Südwestkorso, ich laufe einfach, lache die Zuschauer an, freue mich an den Bands, werde ab und zu mal mit Namen angefeuert, Lentzeallee – buäh, hier gibt’s die Powerbar-Gels, davon klebt wieder die ganze Straße. Letztes Mal hat hier mein Knie so schlimm geschmerzt, dass ich auf den Grünstreifen ausgewichen bin, weil der nicht so klebrig war. Heute geht es mir einfach nur gut, ich laufe wie ein kleines Uhrwerk. Am Wilden Eber stehen die Leute wieder in mehreren Reihen, aber die Musik ist gerade etwas lahm. Am Hohenzollerndamm sitzt ein etwa 14-jähriger Junge mit Schlagzeug vor einem großen Transparent „Jan’s Drum Station“ – alle Achtung, der Knabe trommelt, was das Zeug hält, und das vor großem Publikum. A propos Hohenzollerndamm: Was mir vorhin aufgefallen ist – ich sollte bei den Zeitmessmatten nicht immer auf die Uhr gucken. Das sieht im Video (und die Kameras stehen alle an den Zeitmessmatten) einfach blöd aus. So langsam werden die Beine etwas schwerer, aber mir tut nix weh, jedenfalls nicht richtig. Ich denke daran, wie schwer es beim letzten Mal war – kein Vergleich – etwas schwere Beine sind kein Grund langsamer zu werden. Lauf einfach, Du kannst das, das Rechnen soll leicht bleiben. Fehrbelliner Platz, Konstanzer Straße, schon Ku’damm. Leute, Jubel, Bands (zu viel Jazz dieses Jahr, könnte ich vielleicht mal eine ordentliche Punkband haben?), Sonnenschein. Hinter dem Nollendorfplatz reicht eine Frau Duplos aus einer Schachtel, ihr Begleiter bietet Cola an – so reizend, aber ich habe keinen Bedarf. Potsdamer Straße – ha, eine Steigung zur Potsdamer Brücke! Ach was, auch das zählt nicht. Danach standen letztes Mal die Beatboxer. Dieses Mal weiß ich, dass ich am Potsdamer Platz nach den Jogmap-Supportern Ausschau halten darf. Da sind sie! Sie sehen mich auch und jubeln – Danke!

Und dann kommt ein echtes Highlight: An der Leipziger Straße unter den Arkaden sehe ich Schalk, ich brülle, muss langsamer werden und nochmal brüllen, da sieht er mich, lacht und sagt, auf mich habe er gerade gewartet. Ui! Und dann begleitet er mich, sagt mir, wo ich die Kurven lieber außen nehmen soll, um nicht abbremsen zu müssen, versichert mir, ich sähe noch locker aus und rechnet, dass ich etwa bei 4:11 im Ziel sein müsse. Er unterhält mich, macht ein Foto, bringt mir Wasser vom letzten VP, ich fühle mich einfach umsorgt und verwöhnt. Kurz vor Unter den Linden schickt er mich mit der Aufforderung weiter, den Rest zu genießen. Wow, das war toll, vielen, vielen Dank, Schalk!

Und wie ich den Rest genieße: die Fußgängerschleuse passiere ich rechts, Brandenburger Tor – es macht auch beim zweiten Mal noch Gänsehaut hindurch zu laufen! Die Zielgerade – die Luft reicht zum Beschleunigen, aber das rechte Bein krampft und sackt fast weg. Oh hoppla, dann einfach Tempo halten, strahlen, laufen, strahlen, laufen, laufen – Ziel! Ich halte die Uhr an und kann es kaum glauben, da steht eine 4:10 drauf. Mir wird eine Medaille umgehängt und ich habe meinen zweiten Berlinmarathon geschafft. Eigentlich war er genau wie der erste: wunderbar, berührend, beeindruckend, nicht ganz so sentimental (musste beim Zieleinlauf auch nicht heulen) – nur leichter.

Es war haargenau das, was ich an dem Tag laufen konnte – mehr, als ich mir vorgenommen hatte, anstrengend, aber ohne Quälerei. Andererseits hätte ich nicht eine Minute schneller sein können (da bin ich so sicher, weil ich im Ziel fürchterliche Krämpfe in beiden Beinen hatte – aber eben erst im Ziel, nicht vorher).

Hätte ich vorher einen Wunsch frei gehabt: genau so hätte mein Marathon sein sollen.

Wien

Vorspann 1 – mit Erläuterungen zum Thema Hochstapelei

Dass ich dieses Jahr zum Hermann will, ist schon lange klar, spätestens, seit der Kollege aus Bielefeld uns nach dem CeBIT-Run 2012 praktisch alle eingeladen hat (nur sind die anderen Kollegen inzwischen alle abgesprungen). Nun hat aber Titouli sich zum Wien-Marathon angemeldet und gefragt, ob ich nicht mitkommen möchte. EIGENTLICH will ich erst gar nicht – und gegen Marathon spricht nicht zuletzt der Hermann. Aber in Wien kann man ja auch Halbmarathon laufen, und vielleicht wäre das ja ganz schön. Als ich mich anmelden will, ist der Halbmarathon ausverkauft. Am selben Tag postet Bbubu auf Jogmap, dass er einen Gutschein für Wien übrig hätte, und irgendwie bin ich vom Glück geküsst, denn ich bin die erste, die ihn haben will und bekomme ihn auch – hier noch einmal: Danke, @Bbubu, vielen lieben Dank! Da steh‘ ich nun, mit einem Startplatz. Klar kann man damit auch HM laufen, aber irgendwie reizt es mich doch… Weil ich ja durchaus Erfahrung mit Überlastung habe, entscheide ich mich für den ganz langsamen Marquardt-Plan, mit viel Zusatzsport, Schwimmen, Rumpfstabi, Lauf-ABC und halte mich recht ordentlich dran. Ich kündige allen an, dass ich sofort aufhören will, wenn es irgendwo ziept. Aber es ziept nicht. Ehrlich gesagt, verrate ich einigen Leuten auch gar nicht erst, dass ich mit dem Gedanken an die volle Strecke spiele… Aber die Vorbereitung läuft, trotz Eis und Schnee, trotz eines kleinen Infekts. Zum Hermann sind wir natürlich auch gemeldet – immer mit etwas schlechtem Gewissen wegen der Gräten und immer mit dem Gefühl eigentlich eine Hochstaplerin zu sein.

Vorspann 2 – Ausflug!

Im Nachtzug nach Wien reisen ist toll – ich liebe Bahn fahren, und ein Schlafwagen, in den auf der Strecke nach Dresden erstmal die untergehende Sonne scheint, ist einfach großartig. Am Freitag früh sind wir da, holen die Startunterlagen, betreiben moderaten Tourismus (viel Kaffeehaus, wenig Strecke) und kommen bei Titoulis Ex-Kollegen M. ganz zentral unter. Der ist nebenbei noch Jazzmusiker und hat am Samstag zu einem kleinen Hauskonzert geladen, denn die andere Läuferin, die auch bei ihm zu Besuch ist, kann ganz wunderbar singen. Geht’s uns gut!

Hauptteil – Marathon

Auch in Wien fahren am Sonntag früh fast nur Menschen mit den gewissen Kleiderbeuteln in der U-Bahn. Schon da kommt ein wunderbares Gefühl auf, es ist Marathon. Und wir fahren hin. Das Wetter ist traumhaft, die Kulisse vor der UNO-City fantastisch, und dann kommt, während wir unseren Kram in den Kleiderbeuteln verstauen, eine Person mit einem kleinen Schild „Top Athletes“ und direkt danach Haile und all die anderen Spitzenläuferinnen und -läufer auf dem Weg ins VIP-Zelt. Wir Hobbyläufer applaudieren und ich habe schon wieder Gänsehaut. Als die Beutel abgegeben sind, fragt mich Titouli, wo eigentlich meine Uhr sei – er denkt, ich hätte sie eben mit den Klamotten abgegeben und müsse sie halt zurück holen. Aber nein, so ist es nicht, ich Rind hab‘ sie tatsächlich auf dem Nachtschränkchen bei M. liegen gelassen. Arme Garmine, schon wieder allein zu Haus.

Wir stellen uns in den schwarzen Startblock (das wäre in Berlin H wie „hinten“), wo leider von der Musikbeschallung, die es weiter vorne gibt, fast nichts zu hören ist. Da hätten sie aber mal ein paar Lautsprecher mehr spendieren können, zumal die Musik hier wirklich anders ist als anderswo – Klassik, sehr stilvoll! Im Schatten ist es noch kalt. Irgendwann geht es los, das finde ich etwas unspektakulär, so ohne Musik und Luftballons, als es aber über die Donaubrücke geht, bin ich doch ziemlich ergriffen. Am Eingang zum Prater stehen seltsame Schilling-Nostalgiker mit einem „Raus-aus-Europa“- und einem „Marathon statt Banken-Run“-Transparent (hö?) Von solchen Leuten will ich mich ja nicht vereinnahmen lassen und rufe ihnen ein herzliches „Europa!“ zu, einige Läufer lachen. Es geht durch den Prater – noch gibt es keine Blätter an den Bäumen, aber Knospen, die aussehen, als würden sie jeden Moment explodieren. Wir sind eher langsam unterwegs, aber das soll so sein. Genießen und gesund ankommen.

Zuschauer gibt es nicht sehr viele, auch nicht, als wir am Donaukanal Richtung Innenstadt laufen, aber da kommt uns die Spitze entgegen. Wahnsinn, wie die fliegen! Die sind schon bei KM 28 oder so, wir haben gerade mal 9 zurückgelegt. Gelegentlich steht da ein Wagen mit Lautsprechern drauf, hmm, die Live-Musik-verwöhnte Berlinerin reißt sich zusammen und findet auch Konserve fein. In der Innenstadt wird es etwas belebter. An der großen Kreuzung Schwarzenbergplatz spielen sie Walzer – ich versuche Laufschritt und Walzertakt zu vereinbaren, aber das klappt eher bedingt. Vor der Oper, wo die große Leinwand hängt, und wo eine Trommelgruppe trommelt, drängt sich das Publikum, hier werden wir angefeuert! Am Naschmarkt biegt Titouli in eine öffentliche Toilette ab – das will ich auch, aber die Damenabteilung hat geschlossen. Ich fühle mich etwas diskriminiert und laufe weiter. Auf der linken Wienzeile steht unser Gastgeber fotografiert und jubelt uns zu – eigentlich muss der heute am Schreibtisch sitzen, er ist extra für uns an die Strecke gekommen. Danke! Es geht Richtung Schönbrunn. Weil die Straße sich schlängelt, sehen wir den langen bunten Läuferlindwurm vor und hinter uns. Naja, eher vor uns. Fast alle um uns herum haben die Startnummern des HM – ob nachher wohl überhaupt noch jemand übrig ist, der mit uns die zweite Hälfte laufen wird?

Am Staffelwechselpunkt sehe ich ein freies Toitoi (so heißen die Dixies hier). Titouli geht solange weiter, bis ich ihn wieder eingeholt habe. Vom Schloss Schönbrunn ist nichts zu sehen, dafür bekomme ich mal wieder Seitenstiche. KM 17-19 sind etwas mühsam, ich schnaufe und versuche sie wegzuatmen, dann geht’s wieder. Da ist auch schon die Hälfte vorbei und die Halben biegen ab durchs Heldentor. Titouli will noch gar nicht hinschauen – ich schon.

Es wird leerer auf der Strecke, wir laufen den Ring weiter, und irgendwann wieder am Donaukanal Richtung Prater. Links steht ein Schild 28, rechts, wo sie uns schon entgegenkommen eins mit einer 38. Au weia, es wird noch über eine Stunde dauern, bis wir wieder hier sind. Doch, die auf der Gegenfahrbahn sind merklich schneller als wir unterwegs. Ein bisschen beneide ich sie. Am Straßenrand steht ein Mann mit Notenständer und spielt Akkordeon – endlich wieder einmal Live-Musik, danke! Ich entwickle eine Theorie, die geht so: wenn der Marathon erst bei KM 30 anfängt, ein Zehner aber immer geht, dann müssten die Kilometer 30-32 die schlimmsten sein, und danach müsste es wieder leichter gehen. Ich versuche das zu beobachten.

Erstmal sind sie wirklich schlimm: zuerst die blöde kleine Wendestrecke vor dem Ernst-Happel-Stadion, dann die lange Wendestrecke auf der Praterhauptallee. Irgendwo habe ich was von schattigen Praterbäumen gelesen. So ist es aber nicht. Zwar kommt es uns vor, als wären die Knospen noch ein bisschen dicker als vorhin, Schatten spenden sie aber immer noch keinen. Dafür hängen an den Bäumen Lautsprecher, die alle dieselbe Musik spielen. Das ist toll! Wir laufen durch die Musik. Trotzdem zieht es sich ziemlich bis zu diesem ollen Lusthaus, wo wir endlich wenden dürfen. Zum Glück kommen auch uns noch Läufer entgegen, ich dachte schon, hinter uns kommt nichts mehr. Als ich das letzte Gel aus der hinteren Hosentasche fummle, stelle ich fest, dass die Tüte geplatzt ist. Der Notgeldschein, das Ticket für den Nahverkehr und das Gel bilden eine klebrige Einheit. Meine Güte, das Zeug klebt wie Hölle. Irgendwie bekomme ich die Geltüte dann doch raus und leere sie. Die Hände kleben jetzt ebenfalls ganz fies, buäh.

Bin ich froh, als wir wieder bewohntere Gegenden belaufen und ich mir an einer Wasserstelle kurz die Hände waschen kann. Der Mann mit Akkordeon ist immer noch da und spielt. Die Zuschauer, die jetzt noch da sind, sind übrigens großartig. Wir werden so direkt und persönlich angefeuert, wunderbar. Ich beschließe, an meine Theorie zu glauben, und es funktioniert. Die Beine sind längst nicht mehr so schwer wie eben im Prater, ich muss alle, die uns zujubeln anstrahlen, mich bedanken, zurückjubeln und bin einfach total marathongeflasht. Es macht so viel Spaß, die Helferinnen an den Wasserstellen stehen jetzt mitten auf der Fahrbahn, um uns die Becher direkt auf der Ideallinie zu servieren. Nochmal wird Walzer gespielt, diesmal muss ich mich sogar ein paarmal drehen. Es ist nicht mehr weit, es ist nicht mehr weit, ich habe das Gefühl, ich fliege gleich – hat schon mal wer fliegende Schnecken gesehen? Gibt’s echt! Nochmal Oper, nochmal Trommeln, nochmal Jubel! Wow, was machen die hier noch alle? Sind die wegen uns so lange dageblieben? Und da ist endlich die Abzweigung auf den Heldenplatz, der rote Teppich ist hier gelb, gemeinsam fliegen wir nebeneinander durchs Ziel.

Nein, wir sind nicht wirklich geflogen – 4:53 ist nicht schnell. Aber das Gefühl war einfach trotzdem da.

Abspann

Medaille (die ist wirklich toll, sternförmig und mit einem Glitzerstein!), Erdinger, Kleiderbeutel, Belohnungskaffee im Palmenhaus, U-Bahn, Abendessen mit M., Rückfahrt am Montag im Zug (sehr erholsam, kann ich nur empfehlen, auch wenn der Speisewagen keinen Strom hatte und wir nur Salat bekamen), Regenerieren. Das war ein wunderbarer Ausflug nach Wien.

Und jetzt? Wie geht es dem Gestell? Eigentlich gut, aber ganz sicher bin ich nicht, ob es eine gute Idee ist, am Sonntag den Hermann zu laufen. Ein bisschen Hochstapelei halt – oder den Hals nicht voll kriegen. Morgen werde ich noch einen kleinen Test laufen, ob alles sich so anfühlt, wie es soll. Drückt mir die Daumen.

Die andere Seite

oder: was die Supporterin beim Berlin-Marathon erlebt hat

Als der Wecker klingelt, sind unsere diesjährigen Läuferinnen und Läufer schon im Startblock oder kurz davor, vielleicht bei der Kleiderabgabe oder in der Dixieschlange. Zum Frühstück gibt es Marathonfernsehen – Startmusik, fünf Prominasen, die gemeinsam auf einen dicken Knopf drücken, der den Startschuss auslöst, aufsteigende Ballontrauben, Helikopterbilder vom Läuferstrom, wunderbar! Als die Spitzenläufer, noch umringt von ihren gestreiften Pacemakern den genau wie letztes Jahr im Sonnenlicht glitzernden Springbrunnen am Straußberger Platz umrunden, schalte ich aus und breche auf.

Mit dem Fahrrad durch eine Stadt zu flitzen, die für Autos heute beinahe unbenutzbar ist, macht großen Spaß. Als erstes parke ich bei Kilometer 22. Tinadoro mit Mann und Sohn (der gestern den Minimarathon in 18:13 Minuten gefinished hat, super!) kommen auch gerade, dann auch Titouli mit seinen Eltern, die zu Besuch in der Stadt sind. Nach ein paar vereinzelten Handbikern kommen auch schon die Spitzenläufer – wusch! – schon vorbei. Das Fachpublikum um mich herum ist überzeugt davon, dass sie für einen Weltrekord zu spät dran sind – hmmm, die haben wohl alle bis vor wenigen Minuten Fernsehen geguckt? Kaum später wird Jan Fitschen fast mehr gefeiert als die Spitzenläufer, noch etwas später kommen die ersten Frauen. Die Favoritin Kebede ist leicht an ihrer Puschelfrisur zu erkennen.

Als es auf der Strecke etwas voller wird, tut mir die Ordnerin ein bisschen leid, denn die Schöneberger Eltern scheinen größeren Wert darauf zu legen, dass ihre lieben Kleinen Spaß, als dass die Läufer ausreichend Platz haben. Immer wieder werden sie aufgefordert, ein bisschen zurück zu weichen, aber die Kinderlein stellen sich gleich wieder in den Weg um abgeklatscht zu werden, während die Eltern offensichtlich keine Lust haben einzuschreiten. Wobei die Läufer klasse sind, auch wenn sie einen Bogen laufen müssen, klatschen viele lachend die Kinderhände ab. Wir gehen dann aber lieber ein Stück weiter, wo es nicht so voll ist.

Tinadoro und Familie schauen sich jedes Jahr den Zieleinlauf der Schnellsten im TV an, au ja, super Idee – ich bin zwar ein wenig hin- und hergerissen, ob ich damit meine Supporterinnenpflicht vernachlässige, aber eigentlich müsste noch ein bisschen Zeit sein, bis „meine“ Läuferinnen kommen – und running_with_scissors muss ich sowieso schon verpasst haben. Wir schauen uns also die letzten acht Minuten der Männer im Fernsehen an. Das Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden Erstplatzierten ist unglaublich spannend. Der Moderator bekommt kaum noch Luft und ruft immer „Das gab es noch nie, so etwas gab es noch nie“. Mutai und Kimetto überqueren die Ziellinie mit einer Sekunde Abstand. Eigentlich würde ich die Frauen auch gerne sehen, aber als gewissenhafte Supporterin gehe ich lieber wieder runter an die Straße. Kaum habe ich wieder Stellung bezogen, kommt auch schon cocobolo vorbei, ich juble ihr zu und freu mich, dass sie mich sieht. Es ist nämlich ziemlich schwer, sich die ganze Zeit auf den Läuferstrom zu konzentrieren. Fünf Jogmapperinnen habe ich in der App als Favoritinnen eingetragen und gelegentlich versuche ich, die Anzeige zu aktualisieren, aber hinter den Namen steht nur N/A. Blöde App. Der Nächste, der vorbei kommt, ist Norvorrun, ich werde kurz geknuddelt, dann ist er schon wieder weg. Auch Zausel, , Charlotte_York, stachel und Inumi sehe ich (Reihenfolge kann falsch sein), freu mich drüber, umarme kurz, laufe ein paar Schritte mit und feuere sie an. Gut sehen sie aus!

Ehrlich gesagt, bin ich teilweise ein bisschen verblüfft, was für Leute da insgesamt so unterwegs sind: es gibt gar nicht wenige, die hier bereits gehen und nicht mehr richtig gut aussehen. Unsere Debütantinnen sind zwar nicht besonders schnell (nichts für ungut!), aber sie laufen wie die kleinen Uhrwerke. Toll – die waren offensichtlich alle im Training richtig fleißig, und jetzt zahlt es sich aus. Nachdem sie alle durch sind, schwinge ich mich wieder aufs Rad und fahre an den Fehrbelliner Platz. Letztes Jahr stand Titouli für mich am Preußenpark – da will ich nicht stehen, das wäre zu traurig – also lieber etwas weiter vorne am Hohenzollerndamm. Ich bin voll konzentriert, denn hier soll ich SWaBS ihre Cola reichen. Die App liefert jetzt Zwischenzeiten, aber ich kann vor lauter Konzentration auf die Vorbeilaufenden nicht ausrechnen, wann es soweit sein könnte. Ich traue mich auch kaum aufs Telefon zu schauen, denn sicher kommen sie genau dann… Neben mir stehen supportende Läufer, die teils fachsimpeln, teils sehr engagiert die Namen auf den Startnummern rufen, worüber sich die persönlich Angesprochenen alle freuen.

Da, hurra, zuerst kommt wieder Norvorrun, dem es an dieser Stelle aber nicht so gut geht. Dann erkenne ich SWaBS, so ein Glück, die aber gerade gar keine Cola möchte, weil sie mit ihrer Puste beschäftigt ist. Laufnad ist auch dabei. Dann kommt renbueh, die nimmt die für SWaBS bestimmte Cola gerne an – prima, doch für was gut. Kurz danach sehe ich einen Läufer am Rand von hinten heranflitzen, der alle anderen überholt – das ist Schalk, der fliegenden Support betreibt und mit seiner Geschwindigkeit die Marathonis auf der Strecke demoralisiert. Bevor er weiterdüst, erfahre ich, dass da gleich noch stachel und SpeedyBunny kommen, aber ich sehe nur stachel, die immer noch ganz gleichmäßig wie das kleine Uhrwerk läuft. Super.

Am Ku’damm quere ich die Strecke. Da das Läuferfeld sich schon ganz schön gelichtet hat, ist das nicht schwer. Am Potsdamer Platz stelle ich mich wie besprochen links von der Strecke auf. Das Supporter-Team für das gallische Dorf (habt Ihr auch Asterix, Obelix, Troubadix, einen Römer und Gutemiene gesehen?) hat leider ein riesiges Pappschild, das mir etwas die Sicht versperrt. Hier sehe ich nur Norvorrun, lonelysoul und renbueh – ich vergleiche die Zwischenzeiten auf der App, die gerade mal wieder gesendet hat, kann immer noch nicht rechnen und vermute ziemlich stark, dass ich alle anderen verpasst habe. Also gut, letzte Etappe.

Am Pariser Platz gibt es eine ganz faszinierende Fußgängerschleuse. Um die zu erklären bräuchte es eigentlich eine Zeichnung. Also: da stehen viele HelferInnen mit einem langen Seil und sperren die eine Hälfte der Strecke in einer langen Schräge ab, so dass die Marathonis auf der anderen Hälfte aufs Brandenburger Tor zu laufen. in der Zeit wird aus einer Umzäunung auf der abgesperrten Seite ein Schwung Leute in ein Gatter auf dem Mittelstreifen gelassen. Wenn das Gatter voll ist, bewegen sich die Leute mit dem Seil sachte, ohne die Heranlaufenden zu stören auf die andere Seite. Das Seil lenkt die Läufer jetzt auf der anderen Seite Richtung Tor, und wenn auf der gesperrten Seite niemand mehr kommt, leert sich das Gatter auf diese Seite. Danach wird es von derselben Seite – vom anderen Ende her, damit sich die Querenden nicht in die Quere kommen – wieder befüllt, und die mit dem Seil wechseln wieder die Seite. War das jetzt irgendwie verständlich? Egal, es war jedenfalls höchst beeindruckend.

Irgendwann bin ich durch, kann mein Rad durchs Tor und dann in den Familienzusammenführungsbereich schieben. Dort bin ich verständlicherweise eher unwillkommen, denn das Gedränge ist gigantisch und der Drahtesel nervt. Mist, ich hätte das Rad draußen parken sollen, aber wo nur, zwischen hier und Tor ist es doch nirgendwo besser? Ich reihe mich hinter einem Kinderwagen ein, der ist ein Stück breiter als ich und bahnt mir den Weg. Da ist das J – und da stehen auch die Jogmapper. Tja, und wie es dort zugegangen ist, war ja schon in vielen anderen Blogs zu lesen.

P.S.: Schalk sagt, dass supporten anstrengender sei als laufen – naja, beinahe. Es hat aber großen Spaß gemacht und mich beinahe damit versöhnt, dass ich nicht starten konnte.

So oder so ähnlich. Aber nicht anders (Langfassung).

Haftungsausschluss: Die Langfassung könnte sehr lang werden, denn es ist das Recht der Debütantin, sich an ALLES genau erinnern zu wollen – wen das langweilt: einfach woanders weiterlesen.

Die Aufregung erreicht schon eine Woche vorher einen Höhepunkt mit dem hypochondrischen Knie. Als am Donnerstag ein kleines Testläufchen ziemlich katastrophal mit Knie nach 5km endet, werde ich leicht panisch. Im Treppenhaus treffe ich meine ältere Nachbarin, die immer, wenn sie mich in Laufsachen sieht, ruft (man stelle sich eine leicht piepsige Stimme vor): „Ach da ist ja unsere Sportlerin!“ Und weil die Berlinerinnen und Berliner ja sehr gut über ihren Marathon Bescheid wissen, fügt sie hinzu: „Jetzt sagen Sie aber nicht, dass sie am Sonntag mitlaufen!“ Ich – etwas trotzig: „Doch, doch, das habe ich vor.“ (Selbsthypnose vom Feinsten!) Die Nachbarin: „Na, da passen Sie mal schön auf, dass Sie vor dem Besenwagen ankommen“. Das Berliner Publikum hat eben auch das Fachvokabular drauf.

Am Freitag habe ich noch einen Termin beim Physio. Der diagnostiziert eine Blockade, fragt, ob ich umgeknickt sei, knetet an mir rum und klebt blaues Tape – einen kleinen Streifen außen aufs Knie, einen auf den Bauch und zwei Streifen und ein kleines V auf den unteren Rücken. Sehr schick. Das wichtigste: er befindet, ich könne laufen, na bitte, das wollte ich doch hören.

Samstag, Villa Kreuzberg, Jogmaptreffen. Das ist wieder sehr schön! Es macht großen Spaß, mitzuerleben, wie es anderen geht, essen, trinken, lachen – und ganz viele gute Ratschläge „fürs erste Mal“ zu bekommen. Diese sind mir besonders wichtig: Tame erklärt mir erstens, wie der Schwamm funktioniert (ja, lacht nur!), dass der sich unter der Mütze bei Hitze ganz prima macht, und zweitens versichert sie mir, dass auch Frauen an der Strecke ausreichend Grünanlagen finden, wenn gerade kein Dixie zur Hand ist. Danke Tame, beides war hilfreich. Schalk berät zu Versorgungsfragen unterwegs (und ist überhaupt ganz zauberhaft ermutigend), und als ich ganz am Schluss Henry gegenüber flapsig erwähne, dass ich ja, sollte ich es nicht schaffen, in die U-Bahn steigen könne, guckt der ganz streng und sagt, das sei keine Option. Ich bin ganz erschrocken – merke aber, dass das stimmt.

Sonntag. Um 6:54 Uhr bin ich im U-Bahnhof mit dem Hasen knopf_13 und dem Kollegen N. verabredet. Als der Wecker klingelt, dauert es noch etwa eine Minute, bis ich realisere, dass ich mich beim Stellen um eine Stunde verrechnet habe, und jetzt noch genau 23 Minuten habe, bis die U-Bahn fährt. Das sorgt schon mal für einen kleinen Warmlaufsprint. Fahrschein ziehen, da kommt auch schon die Bahn – knopf_13 winkt aus dem letzten Wagen, N. und ich steigen zu. Dafür, dass ich erst einmal meine Tupperdose auspacke und in der U-Bahn Haferbrei in mich reinschaufle, ernte ich durchaus ein wenig Hohn und Spott. Dass wir vergessen, am Zoo auszusteigen und zu weit und dann wieder zurück fahren, hat aber nichts mit meinem eiligen Frühstück zu tun.

Im Startblock fröstle ich noch etwas unter dem orangefarbenen Plastiksack. Das Licht ist wunderschön, ja, ich weiß, es wird warm, ja, die meisten mögen das nicht, aber es ist einfach ein wunderschöner Tag. Bei allen Wettkämpfen wird vor dem Start diese albern-pathetische Pirates-of-the-Caribbean-Musike gespielt – oft bin ich genervt, wenn versucht wird, mich mit Musik emotional zu manipulieren. Aber heute bin ich sofort gerührt und schwerst ergriffen. Startschuss des ersten Blocks – wir sehen die riesige Traube roter Ballons aufsteigen, und ich schniefe schon wieder vor Rührung. Herrjeh, meine Sentimentalitätsschwelle versinkt gerade ins Bodenlose.

Irgendwann dürfen wir auch los. Ich glaube bei der Siegessäule sehe ich zum ersten Mal das grüne Plakat „Berlin ist auch dein Freund“ – der Spruch gefällt mir unheimlich gut, aber ich bin zu verpeilt, um gleich zu erkennen, dass es Fairy ist, die das Plakat hält, und dass es eine Anspielung auf WWConnys Avatarbildchen ist. Das fällt mir erst viel später am Innsbrucker Platz auf. Da finde ich es dann noch toller. Es ist verblüffend, wie schnell der Ernst-Reuter-Platz erreicht ist, dann auch schon die Gotzkowsky-Brücke. Da steht Kollegin Suse und brüllt „UUWWEEE!“ – ich brülle „SUUSEEE!“ und denke, jetzt muss ich schon die Supporter anschreien, damit sie mich überhaupt wahrnehmen hinter dem langen Hasen. Ihr nachgeschoben-euphorisches „Da ist sie ja!“ versöhnt mich aber gleich wieder. Auf der Brücke erklärt ein ortsfremder Läufer seiner Begleiterin, dass das hier eine bessere Wohngegend sei. Moabit??? Wo der wohl herkommt? Und wie er wohl wohnt? Beim moabiter Knast erinnere ich mich, dass rhinfo mal geschrieben hat, dass die Knackis früher mal dem Marathon zugejubelt haben – das scheint aber nicht mehr zu klappen, ich sehe jedenfalls keine, wir sind viel zu dicht an der hohen Mauer.

Kurz nach dem Hauptbahnhof meldet sich mein Knie. Aua. Was soll das denn? Wir sind noch nicht einmal 8 km gelaufen. Das Gerücht sagt, man könne so ein Knie manchmal überlaufen. OK, wird probiert. Es tut weh, aber nicht so schlimm, dass es nicht mehr geht. Auf der Torstraße gehen mir Gedanken durch den Kopf wie: wenn du aufhörst, werden dich alle zu deiner Vernunft beglückwünschen. Ich will aber nicht zur Vernunft beglückwünscht werden, sondern zum Finishen. Ich muss mir Mühe geben, nicht unrund zu laufen. Die Musik hilft dabei – immer schön drauf aufs rechte Bein, es tut sowieso weh, also auf keinen Fall schonen, sonst wird das alles nur asymmetrisch. Je rhythmischer die Musik, desto besser klappt das, bei Jazzkapellen weniger. Es ist auszuhalten, also lauf, so lange es geht.

Mollstraße/Otto-Braun-Straße steht Raina mit Sohn Felix in der Kurve – sie rufen und winken – schön! Karl-Marx-Allee, der Springrunnen am Straußberger Platz leuchtet von weitem im Gegenlicht – wunderschön, sonst erinnere ich mich kaum an diesen Abschnitt. Der Hase fotografiert fleißig, das finde ich toll – da fällt mir ein, er hat mir die Bilder noch gar nicht gezeigt! – z.B. das Vattenfall-Kraftwerk an der Spree, das ich wirklich schön finde. Durch Kreuzberg ist es sehr kurzweilig. In der Ritterstraße wird der Verpflegungspunkt aufs engagierteste moderiert, dann laute Musik am Kottbusser Tor, dichte Menschenmenge den ganzen Kottbusser Damm entlang. Hier habe ich vor zweiundzwanzig Jahren zum ersten Mal Marathon geguckt (die chinesische Mitbewohnerin ist damals mitgelaufen). Charlotte_York steht am Hermannplatz, und kurz danach an der Hasenheide auch Barbara, die uns die ersten Gels reicht – sie hat gleich Mann und Kinder mitgebracht. Ich fühle mich sehr geehrt von so einem Bahnhof. Südstern, Gneisenaustraße, die Kilometer fliegen, auch wenn permanent das Knie weh tut. An der Ecke Solmsstraße stehen Susanne und Wolf, es kommt mir vor, als würde ich das halbe Publikum kennen.

Die Yorckbrücken mag ich auch sehr – Inumi steht da und erkennt uns im letzten Moment – da ist auch schon der Halbmarathon geschafft. Wir sind ein bisschen langsamer als geplant, ich frage mich, ob es dem Hasen was ausmacht, dass die Igelin etwas lahmt, aber noch laufen wir zu dritt. Erstmal werden wir von des Hasen Familie mit der nächsten Ladung Glibber versorgt. Brrr! Aber wenn’s hilft. Kollege N. zieht nach vorne davon. An der Grunewaldstraße steht tinadoro mit einem Schild, auf dem „Micha“ steht – nein, ich bin ja so gerührt, ich könnte schon wieder heulen. Sie reicht mir zwei Gürkchen, weil ich die im Spreewald so klasse gefunden hatte. Lecker! Und wenige Meter weiter: Jo und Ulla! Danke auch euch fürs Jubeln!

Martin-Luther-Straße, Rathaus Schöneberg, Innsbrucker Platz – hier erkenne ich endlich, dass es Fairy ist, die das tolle Plakat hält, aber zu spät um zu rufen, sie bemerkt uns nicht. Dann spielen unter der S-Bahn die großartigen Steeldrums, das ist unheimlich laut unter der Brücke (und immer schön rauf aufs rechte Bein! nicht ausweichen!). Eine WG, die mir schon letztes Jahr aufgefallen ist, hat gigantische Lautsprecher auf den Balkon gestellt und beschallt die Hauptstraße, super. Fünf ältere dauergewellte Frauen auf dem Grünstreifen grölen halbwegs melodisch „Ihr seid die Champions, ihr seid die Champions“ und versuchen dabei allen, die vorbei laufen, ins Gesicht zu schauen – so geht persönliche Ansprache.

Quasi bei mir zu Hause bei km 26 steht Titus mit den nächsten Gels und ruft uns zu „Weltrekord für Kenia“, da wissen wir, dass Patrick Makau gewonnen hat – und wir es noch ganz schön weit haben. Das Anlaufen nach der Gelübernahme ist so eklig, dass ich in Tunnelblick verfalle und den nächsten Wasserstand am Südwestkorso übersehe. In der Lenzeallee stehen Powerbar-Fahnen, aber es gibt nur Gel und kein Wasser. Doof. Außerdem klebt die Straße ganz ekelhaft, ich habe das Gefühl, die Füße nicht mehr vom Boden zu bekommen und möchte einen Moment lang eher heulen, ausnahmsweise nicht vor Rührung. Außerdem muss ich mal. Da holen wir N. wieder ein. Vor uns der Wilde Eber. Die lebensgroße Eberskulptur ist nicht zu sehen, ich glaube, sie haben die Bühne darüber aufgebaut. Ich war noch nie zum Marathon am Wilden Eber, aber alle sagen immer, dass da die Stimmung am tollsten sei. Stimmt, es ist toll. Das erste, was ich sehe, sind lange Schlangen an den Dixies, dann eine Band auf der Bühne, völlig euphorisierte Zuschauer, die uns mit Namen anfeuern, Cheerleader mit silberfarbenen Puscheln, und schon sind wir vorbei.

Am Roseneck passiert, was ich vorher nicht für möglich gehalten hätte: wir beschließen, ins Gebüsch zu pieseln. Das heißt, nach vorne zur Straße ist Gebüsch – nach hinten offener Rasen und Bänke. Auf einer Bank sitzt eine Frau. Es riecht schon etwas streng, aber irgendwie ist mir das in dem Moment egal – ich staune über mich selber. Nun ja, und verfrüht war das jetzt auch nicht. Auf dem Hohenzollerndamm bekomme ich Seitenstechen. Am Verpflegungspunkt stehen viele Liegen, auf denen Läufer sich Krämpfe rausmassieren lassen. Es tut jetzt auch nichts mehr zur Sache, dass es hier mehrere schlangenfreie Dixies gibt. Wir sind langsamer geworden, und ich frage den Hasen nochmal, ob er alleine weiter will – will er aber nicht. Ich konzentriere mich aufs Atmen und freu mich ein bisschen, dass das Seitenstechen vom Knie ablenkt. Schneller zu laufen ginge jetzt auf keinen Fall, was aber ganz merkwürdig ist: die Kilometer vergehen trotz allem schnell. Kurz vor dem Fehrbelliner Platz steigt N. aus. Schade. Ich weiß sicher, dass ich jetzt nicht mehr aussteigen werde – selbst wenn ich gehen muss, schaffe ich es von hier ab ins Ziel – von wegen Besenwagen, Frau Nachbarin.

Fehrbelliner Platz – Titus mit Glibberverpflegung und Wasser – Konstanzer Straße, Ku’damm, die Gedächtniskirche in ihrem schicken Gerüst, das sie wie ein kleines Hochhaus aussehen lässt, Nollendorfplatz, Potsdamer Straße, so langsam bekomme ich wieder Tunnelblick – schade, es läuft sich leichter, wenn ich mitbekomme, wo ich bin. Der Hase und ich reden weniger als sonst – aber ich soll ja auch nicht quatschen. Ich bewundere, wie er immer wieder beschleunigt, um zu fotografieren, sich dann wieder einholen lässt, laufe aber ganz stur einfach das Tempo, das mein Knie mir erlaubt. Bei der Philharmonie fällt mir ein Auto auf, auf dessen Dach zwei Männer und ein Lautsprecher stehen, aus dem lustige Beatbox-Geräusche kommen. Jetzt die Menschenmenge am Potsdamer Platz. Vor der Leipziger Straße hatte Schalk gewarnt, ja sie zieht sich, aber so lang erscheint sie mir dann auch wieder nicht. An der Abzweigung steht noch einmal Barbara mit Tochter Mara, wie schön! Gendarmenmarkt, so ein schöner Platz! Unter den Linden – jede Menge plattgetrampelter oder -gefahrener Pferdeäpfel, oh ja, und Gänsehaut! Brandenburger Tor. Gleich, gleich! Ich heule schon wieder.

Was mir einen kleinen Moment die Rührung im Zieleinlauf versaut, ist der furchtbar laute Heiratsantrag, den ein Läufer seiner Liebsten gerade auf der großen Videowand machen darf. Herrjeh, wie abgedroschen, das kommt doch JEDES Jahr im Marathon-Fernsehen. Aber das ist nur ein Moment, dann sind wir nämlich wirklich durchs Ziel, ich fasse es nicht, wir haben es geschafft! Ich lache und heule, umarme den Hasen – und greife mir gleich eine Handvoll Eiswürfel aus dem bereitstehenden Beutel für mein Knie. Medaillen, Plastikplane, Erdinger, Rasen vor dem Reichstag, ewig weit entfernte Frauenkleiderzelte, Jogmapper treffen beim J, Nachlaufwurst im Haus der Kulturen – eine bunte Bilderflut, die mich seit Sonntag ständig wieder und unangekündigt, wie ein Minimalariaanfall beutelt. Ich bin immer noch gerührt, wenn ich mit dem Rad die blaue Linie quere – dieses Mal ging sie mich was an! – sehe immer noch Bilder vom Lauf, bekomme immer noch unvermittelt Gänsehaut. Keine Ahnung, wann dieser Zustand wohl nachlässt – soll er aber gar nicht. Und wenn doch, muss ich womöglich mal wieder einen Marathon laufen.

P.S.: Auf mehrfache Nachfrage – ach ja, die Zeit: 4:28:48 – bin sehr zufrieden 🙂