Abgrund Großstadt

Wie die warnende Stimme des geschätzten @Eifelsteiger schon oft hat verlauten lassen: für Läuferinnen und Läufer ist die Hauptstadt ein Abgrund, ein Grauen ohnegleichen. Auf meinem heutigen langen Lauf hatte ich seine warnende Stimme immer wieder im Ohr, so dass ich bereits beim ersten Anblick einer müllübersäten Parkwiese beschloss, ihm diesen Lauf zu widmen. Doch ich greife vor.

Der Tag beginnt mit einem leicht verkaterten Kopf – die Großstädterin musste gestern Abend eine liebe Freundin für längere Zeit ins Ausland verabschieden. Da die Stadt keine Sperrstunde kennt, muss sie im Nachhinein reuig bekennen: das letzte Bier war zu viel. Auf dem Land wäre das bestimmt nicht passiert. Mehrere Stunden nach einem nicht ganz lauftauglichen Frühstück mit zu wenig Brot und zu viel Käse, beschließe ich dann doch, mich in Laufmontur in diesen grässlich blendenden Frühlingssonnenschein zu wagen. Ein wenig flau im Magen ist mir noch.

Als degenerierte Großstädterin muss ich mich vor dem tosenden Lärm der Stadt mit Musik auf den Ohren schützen. Jedem Laufpuristen muss sich bei dieser Vorstellung, das vogelgezwitscherverwöhnte Trommelfell in schmerzhafte Falten legen. Doch uns macht das nichts aus, wir kennen es ja nicht anders. Die erste größere Menschenansammlung ist im Volkspark Wilmersdorf zu durchqueren. Die Massen belagern die Wiesen, als hätten sie kein Zuhause. Kein Hälmchen ist zwischen den dicht an dicht lagernden Städtern zu sehen, dort, wo doch einmal brauner Untergrund zwischen den Leibern zu erkennen ist, haben die Erholungssuchenden diesen mit weggeworfenem Papier, Flaschen und Zigarettenstummeln fast vollständig bedeckt.

Schnell lasse ich den Park hinter mir, um über die Dominicusstraße Richtung Gasometer zu laufen. Hier stört kein Baum und kein Strauch die urbane Atmosphäre von Billigläden, Eckkneipen (mehr als Ecken!) und Spielhallen. Die erhabene Stahlarchitektur des Schöneberger Gasometers lässt fast vergessen, dass da auch noch ein paar armselige, noch blattlose Pappeln drum herum stehen. Eine weitere baumlose Ostwestachse, die Monumentenstraße lässt mich schnell Richtung Osten vorankommen. Auf der Monumentenbrücke sind alle halbrunden Betonpoller inzwischen mit bunten Graffiti verziert (hier falle ich kurz aus der sarkastischen Rolle: die sind wirklich gut, zum Teil lustig und wirklich künstlerisch wertvoll, schade, dass ich keine Kamera mit hatte) unten fahren ICE und S-Bahn, in nicht allzu weiter Ferne sind die Hochhäuser am Potsdamer Platz zu sehen. Kaum habe ich mich an diesem Anblick erfreut, muss ich mich für das nächste Frühlingsgrün wappnen: es geht durch den Viktoriapark. Glücklicherweise bin ich auch hier nicht alleine, sondern finde Verstärkung durch Massen von Kreuzbergern, die hier die Wiesen belagern. Die Großstädterin hat es eben gerne gesellig.

Nach dem Park vermeide ich die Bergmannstraße, denn dort sind die Gehwege von voll besetzten Tischen und Stühlen der vielen Gastronomiebetriebe so verstellt, dass ein Durchkommen vollkommen unmöglich wäre. Aber die Nebenstraßen sind wieder angenehm baumlos und gerade ausreichend bevölkert, um nicht zu vereinsamen. Am Südstern muss ich in den Volkspark Hasenheide einbiegen. Das Denkmal der Trümmerfrau steht im noch blumenlosen Beet, die Drogendealer drücken sich in den mit dichterem Gebüsch bewachsenen Ecken des Parks herum, aber bei so viel Betrieb im Park steht ihnen der Sinn offensichtlich nicht nach Kaltakquise, denn sie unterhalten sich gelangweilt und beachten die Flanierenden nicht. Anders als in den ersten beiden Parks, wird hier sowohl mehr gekickt, als auch tüchtig musiziert – die Trommeln, die von ein paar jungen Männern bearbeitet werden, übertönen die Musik in meinen Ohren.

Beim Überqueren einer Wiese macht ein kleiner Hund seinem Unmut über meine offensichtlich noch zu blassen Läuferinnenbeine Luft – er springt kläffend und zähnefletschend um mich herum. Als abgebrühte Großstadtjoggerin verlangsame ich den Schritt kein bisschen – eher verklage ich Herrchen bis aufs letzte Hemd, als wegen so einem Kläffer von meinem Weg und Tempo abzuweichen. So richtig gefährlich ist er offensichtlich nicht, denn ich komme ungebissen davon.

Durch den Oderstraßeneingang gelange ich aufs Tempelhofer Feld, den ehemaligen Flughafen Tempelhof. Das ist vermutlich der urbanste Park der Welt. Unendliche Weiten, unendliche Massen. Dort, wo das Grillen erlaubt ist, hängen dichte Rauchschwaden über dem Gelände. Darüber schweben bunte Drachen, der Rundweg außen herum erlebt die ersten Frühlingsstaus von SkaterInnen, RadlerInnen, LäuferInnen und SpaziergängerInnen. Vor den Klocontainern stehen lange Schlangen. Feige weiche ich dem Stau auf den Plattenweg aus, der etwas weiter innen um das Gelände verläuft.

Auch diesen Park lasse ich hinter mir, quere das samstäglich ausgestorbene Fliegerviertel (kein Wunder, dass hier keine Menschenseele zu sehen ist, die sind schließlich alle in den Parks, wie ich vorhin gesehen habe). Das Zufallsprogramm des MP3-Players spielt „Stadtaffe“ von Peter Fox – darüber muss ich wirklich lachen. Ich singe ein bisschen mit, sehr zum Befremden einiger Halbwüchsiger, die an einer Bushaltestelle vor dem Bahnhof Südkreuz abhängen. Ich spüre ihre verächtlichen Blicke im Nacken, als sie mir hinterher blicken, aber das stört mich nicht. Beim Überqueren der Autobahn atme ich tief ein, denn gleich danach steht mir wieder eine Grünanlage bevor.

Dort neckt sich ein junges Pärchen, spielerisch dreht er ihr den Arm auf den Rücken, bis sie vor Schmerz quiekt – lachend gibt er sie frei. Ich erwäge kurz, ihr den Rat zu geben, den Trottel in den Wind zu schießen, aber wozu einmischen, darauf kommt sie sicher schnell genug auch alleine.

Der Weg führt mich durch eine Kleingartenanlage – auch hier liegt bereits Grillrauch in der Luft – und dann unspektakulär und ohne weitere Vorkommnisse durch Friedenau bis zum Friedrich-Wilhelm-Platz. Hier dringt noch einmal ohrenbetäubender Lärm durch meine Lautsprecherstöpsel: Am Imbiss haben sie bereits die Biertische in den Vorgarten gestellt und auch einen Fernseher aufgebaut. Eben hat Hertha das 3:1 gegen Mainz geschossen, die versammelten Friedenauer kriegen sich nicht mehr ein vor Begeisterung. Ich halte kurz an, um die Wiederholung zu sehen. Das Bier fließt in Strömen, die Fans liegen sich in den Armen und weinen vor Glück. Ich laufe weiter, um mir an der Eisdiele ein dickes Belohnungseis mit Sahne zu holen. Dann darf ich endlich wieder in meine Höhle – äh: Wohnung – zurück.

Igel allein am Start

Bahnfahren ist schön, wenn ich auch im Moment nicht so genau weiß, wohin mit den müden Beinen. Ich bin froh, dass ich in der Bahn sitze, denn heute früh kam mir mein Zeitplan noch ein klein wenig gewagt vor. Der ging nämlich so: ich radle nach Steglitz (sind nur zehn Minuten), laufe mal eben schnell den Sportscheck Stadtlauf Berlin über die Halbmarathondistanz, dann radle ich wieder heim, dusche fix, schnappe mir den fertig gepackten Rucksack und erwische einen Zug um 12:49 Uhr. Die einen sagten, du bist bekloppt, die anderen, das schaffst du locker, und denen, die fragten, weshalb nimmst du nicht einen späteren Zug, musste ich erklären, dass es dann nicht zum Nachtzug München-Florenz reicht, und wenn ich mich morgen früh nicht in Pisa einfinde, werde ich enterbt, denn die Reise ist ein Geschenk von meinem Bruder und mir für die Eltern. Zur Goldenen Hochzeit, also wichtig.

Ich bin sowieso so eine olle Hibbeline, aber der Zeitplan und ein weiterer ungünstiger Faktor, machen mich besonders nervös. Obwohl er sich seit Monaten drauf gefreut hat, kann der Hase heute nicht antreten, weil er eine Erkältung erwischt hat. Oh je, wie soll ich denn alleine schnell laufen? Bekanntermaßen liegt Beißen mir doch gar nicht. Andererseits habe ich außer meinem Fahr- auch noch einen Trainingsplan, und der schreibt vor, dass der Vorbereitungs-HM in 1:53 zu laufen sei. Na, und wenn ich das schaffe, bekomme ich auch meinen Zug. 

8:00 – ich radle los. Wo stelle ich nur mein Rad ab? Wo komme ich danach möglichst schnell durch die Massen? Ich entscheide mich für einen Bauzaun – um ganz genau zu sein, eine Baustellenausfahrt, die heute nicht gebraucht wird. Was, wenn ich es nicht schaffe und vorzeitig (also bei km 19 wenige 100 m von meiner Haustür entfernt) aussteigen muss? Rettet dann jemand mein Rad vor tonnenschweren Baumaschinen? Ich hoffe es und schließe das Rad an.

8:15 – der weltbeste Hase, heute als Supporter unterwegs, erwartet mich vor der Bank am U-Bahnhof Schloßstraße. Er hat mir zwei Gels mitgebracht, die angeblich ohne Wasser funktionieren. Eines soll ich in die Shirttasche stecken für km 15, das andere wird er mir bei km 10 bereits aufgeschraubt reichen. Kollege S., der nur den Zehner läuft, kommt auch schon, wir tun, was vor einem Rennen zu tun ist, und stehen dann in einer unordentlichen Menschenansammlung, die die Veranstalter möglicherweise für einen Startblock halten. 

9:00 – nix passiert. Wenn ich bis elf fertig werde, reicht es. Um 9:05 werde ich ungeduldig. Alle Umstehenden wissen inzwischen von meinem Zug. Nicht ganz zu Unrecht schlägt die Nachbarin vor, ich brauche ja nur schneller zu laufen. Ja schon, aber wie denn ohne Hasen?

9:07 – irgendwo da vorne ist jetzt wohl ein Startschuss gefallen. Und dann geht es doch ganz flott voran, um 9:10 passiere ich die Startmatte und es läuft. Das Wetter ist perfekt, kühl, sonnig. Wo die Grunewaldstraße leicht bergauf geht, sind die Massen von orange-weißen Shirts zu sehen. Auch wenn ich es eigentlich nicht so toll finde, wenn der Veranstalter mir vorschreibt, was ich anziehen soll, in dem Moment sieht das einfach klasse aus. Sonst gibt es gar nicht viel zu erzählen, es ist gar nicht schlimm, dass es eine Doppelrunde ist. Bei km 10 jubelt und supportet der Hase ganz spitzenmäßig. Die Virtual Partnerin, die als Hasenersatz herhalten muss, läuft irgendwann zwar einmal bis auf 39 Meter heran, kann dann aber doch beinahe wieder ausreichend abgehängt werden. Unterwegs versuche ich gelegentlich, mir Beine zum Hinterherlaufen zu suchen, das klappt aber nicht so richtig, denn die, die mich überholen, sind fast alle zu schnell, um dran zu bleiben, und die, die ich vor mir aussuche, meistens zu schnell einge- und überholt. Eine dünne Frau hat ein gutes Tempo, sie überholt mich auf km 15, bei 17 habe ich sie wieder, bei 19,5 sie mich, und auf der Zielgerade ziehe ich noch vorbei. Die meiste Zeit bin ich aber ganz selbstgenügsam mit Garmine unterwegs. 

11:03 – selbstgemessene siebzehn Sekunden über Plan (was soll’s? Es war ein hasenloser Testwettkampf, und: jaha, ich habe nicht „alles“ gegeben) drücke ich auf der Zielmatte die Uhr ab, drängle kaum am Erdinger-Stand (die meisten haben einfach nicht kapiert, dass das ist wie an den Wasserstellen: für maximal effiziente Bierausgabe muss man sich auf die ganze Standbreite verteilen), treffe den Hasen, der ein Foto nach dem anderen schießt, mir die aufbewahrten Klamotten zurück gibt und mich zum Fahrrad begleitet. Es macht Spaß, auf der Gegenfahrbahn dem Lauf entgegen zu radeln, da kommen noch ganz viele. Ein Mitradler, der besser freihändig fahren kann als ich, klatscht den Läuferinnen und Läufern zu, ich klingle die ganze Zeit und hoffe, dass sie sich davon auch angefeuert fühlen.

11:22 – schließe ich die Wohnungstür auf und habe eine komfortable Dreiviertelstunde für alles weitere. Das war ja wirklich ein entspannter Wettkampf.

Ja, und jetzt sitze ich im Zug und freu mich auf eine Woche Sommer, auf unbekannte Laufstrecken, und auf den nächsten langen Lauf mit dem bis dahin hoffentlich wieder gesunden Hasen.