100 Meilen – oder 13 Kilometer

Das ganze (vorletzte) Wochenende war Mauerweglauf. Schon am späten Freitagnachmittag stolpere ich, den Blick fest aufs Smartphone geheftet, die Karl-Liebknecht-Straße entlang und frage mich, wo denn dieses Ramada-Hotel ist. Dabei renne ich fast eine kleine Frau im geringelten Sommerkleid über den Haufen: meine Staffelpartnerin stachel! Wir sind zum Startnummern-Abholen verabredet, Thoröö ist auch da, kurze Zeit später kommt unsere Vierte Karina dazu und die Mauerwegsteinläuse sind komplett. Startnummern, Gruppenfoto, Pastaparty-Büffet (mit Salat und Nachtisch – sehr, sehr klasse!). Das Staffelbriefing beginnt mit leichter Verspätung, ist dafür aber ziemlich kurzweilig – vor allem der medizinische Teil, wo Rennarzt Carsten Bölke grauslige Fotos der schlimmsten Blessuren der Vorjahre zeigt und launig von Teilnehmern aus den letzten Jahren berichtet, die trotz böser Verletzungen noch finishen konnten. Das soll vor allem heißen: wir nehmen keinen leichtfertig aus dem Rennen, aber wenn wir es tun, hört ihr auf uns und auf. Es wird viel gelacht.

Nach dem Briefing verabschiede ich mich schnell, denn um 4:30 ist die Nacht vorbei. Als ich kurz vor fünf wieder vors Haus trete, ist es warm, ich brauche nichts außer meinem Laufrucksack mit zwei noch leeren 0,25l-Fläschchen (ein halber Liter an der Läuferin ist Pflicht bei dem Wetter), Käppi, Hausschlüssel und einem Notgroschen. Außer mir ist in der BVG nur Nachtschwärmervolk unterwegs. Es riecht nach Bier und einigen merkt man sehr deutlich an, dass sie tüchtig gefeiert haben. Am Potsdamer Platz steigt ein Läufer mit 4er-Staffel-Startnummer ein und setzt sich gleich zu mir. Wir plaudern bis Eberswalder Straße und suchen dann gemeinsam den Eingang zum Jahn-Stadion. Noch ist Gelegenheit, den großen Heldinnen und Helden, die sich die ganze Strecke vornehmen, alles Gute für die weite Reise zu wünschen. 100 Meilen – Wahnsinn! Um Punkt sechs werden sie unter Applaus auf die Strecke geschickt.

Wir StaffelstarterInnen sind eine Stunde später dran. Meine gesamte Staffel ist früh aufgestandenen um beim Start dabeizusein, das ist fein. Wir wollen uns danach an allen Wechselpunkten wieder treffen – als Staffel kann man gar nicht genug jubeln. Der Startschuss fällt, und es geht eine Runde ums Stadion. Die Meute rennt los, als wären wir beim 10km-Lauf und ich finde mich ganz schnell weit hinten wieder. Dort aber in guter Gesellschaft von Kay aus der LG Mauerweg, der die Zweierstaffel läuft. Er findet, wir hätten Zeit und wir pendeln uns schnell auf eine gute 6er-Pace ein.

Kurz hinter der Bornholmer Brücke führt der Mauerweg durch diese verwunschene Ecke, wo sich zwei S-Bahn-Linien treffen, wunderschön verwildert, und das mitten in der Stadt, die Strecke führt leicht bergab. Da fühle ich einen stechenden Schmerz in der Kniekehle. Was ist das denn??? Ich schnappe nach Luft und befehle dem Fahrgestell einfach weiter zu laufen. Nichts anmerken lassen, es sind noch nicht mal drei Kilometer vergangen, ich laufe Staffel, ich habe eine Verantwortung. Gleichzeitig ist es mir unendlich peinlich, nach diesen paar Schritten! Der Schmerz rutscht ein paar Zentimeter nach unten in die Wade, wo er einen glühenden Klumpen bildet. Das darf doch nicht wahr sein, dass so ein harmloses Körperteil so zickt! Ich gehe erstmal ein paar Schritte. Dehnen, anlaufen, geht nicht. Nochmal ein paar Schritte gehen, nochmal anlaufen. Ein älterer Mann mit kleinem Hund schaut mir interessiert auf die Beine – ich entschuldige mich quasi: „Ja, ich weiß, das ist zu früh zum Humpeln“. Er lächelt mitleidig. Am S-Bahnhof Wollankstraße ist die Ampel rot. Gut. Zwar ist weit und breit keine Rennleitung, die mich disqualifizieren könnte, aber die Pause ist willkommen. Antje vom Team Mauerblümchen läuft heran. Ich eiere neben ihr her, sie versucht mich etwas aufzuheitern. Die Ablenkung hilft ein bisschen, zum Glück läuft Antje nicht schnell. Ich beschließe bis zum 1. VP mitzulaufen, vielleicht kennt sich dort jemand mit Waden aus.

Das VP-Team ist reizend, ein Helfer versucht meine Wade durch die berühmte Treppenübung zu mobilisieren, aber das findet die blöd. Ich telefoniere mit stachel. Das Team wollte sich gerade gemütlich zum Frühstücken niederlassen, jetzt machen wir aus, dass ich noch langsam bis zum 2. VP laufe, und Karina bereits dort übernimmt. Ich bin total geknickt, es ist mir ungeheuer peinlich, wegen so einer bescheuerten Wade aufzugeben. Das Mauerblümchen ist schon nach vorne entschwunden, ich hopple hinterher. Vielleicht ist es ja doch nicht so schlimm? Würde ich es bis Hennigsdorf schaffen? Habe ich zu früh telefoniert? Wenn der Schmerz nicht schlimmer würde, könnte ich vielleicht durchhalten? Oder innerhalb der Cutoff-Zeit wandern? Viele toughe Läuferinnen würden das einfach durchziehen! Bin ich zu zimperlich? Oh ja, bin ich – bin zwar furchtbar enttäuscht und wütend auf mich und die Wade, aber es fühlt sich leider tatsächlich nach aufhören an. Mist, Mist, Mist!!! Der 2. VP ist bei KM 13. Wechsel. Mir kullern ein paar Tränchen, ich hatte mich soo gut vorbereitet gefühlt, und soo auf den Lauf gefreut. Karina, die Tapfere, streift den Transponder übers Handgelenk und läuft los. Hoffentlich schafft sie diese weite Strecke.

Ab dem Zeitpunkt bin ich Publikum. Nächster Treffpunkt ist Hennigsdorf, dort, wo eigentlich gewechselt würde, und wo Titouli und Jörg, unser Besuch aus Frankfurt, uns treffen wollen. Es ist heiß, Schwämme und ein Rasensprenger vor dem Ruderclub sind den Läuferinnen eine willkommene Erfrischung. Als Karina ankommt, strahlt sie – aber sie hat ja auch erst gut einen Halbmarathon hinter sich, bis zum nächsten Wechselpunkt sind es nochmal 37km – hoffentlich schafft sie es gut. Eine ganze Weile, nachdem sie weg ist, machen wir – die Reststaffel und unsere Supporter – uns auf den Weg nach Sacrow. Toll ist, wenn die Strecke, die wir mit dem Auto fahren, am Mauerweg entlang führt. Karina sehen wir locker plaudernd mit einem anderen Läufer. Wir sehen auch Olly, Titoulis Mitbewohner, der heute seinen ersten Ultra läuft – und dann gleich diese Strecke!

Im Schlosspark Sacrow ist der VP direkt am Schloss aufgebaut. Gegen die Wespen wird Kaffee in Metallschalen verbrannt, das raucht wie Hölle, riecht aber nicht schlecht und funktioniert hervorragend. Hier bei KM 71 wechseln nicht nur die Vierer- und Zweierstaffeln, es liegen auch Dropbags für die Einzelläufer/-innen bereit, so dass die bei Bedarf Schuhe und Shirts wechseln können. Olly kommt an, er ist sehr vergnügt, würde am liebsten zwischendurch mal duschen, aber das geht hier nicht. Dann muss es eben mit einem kleinen Fußbad und Schuhwechsel gehen. Er stärkt sich noch am VP, dann macht er sich wieder auf den Weg. Die Supporter und ich spazieren ein bisschen durch den Park, sind aber frühzeitig wieder da, um Karina zu empfangen. Irgendwann kommt sie, sie strahlt immer noch, ist erschöpft, aber glücklich. Sie hat ein paar Blasen, und verkündet als erstes, dass sie jetzt erst glaubt, dass man so eine Strecke – 59 km – tatsächlich ohne ausreichendes Training bewältigen könne. Ich bin ja so erleichtert, dass es ihr so gut geht, und unglaublich stolz auf sie. Schnell ein Staffelfoto, dann macht sich stachel auf den Weg. Auch sie sehen wir später auf der Strecke, als wir mit dem Auto nach Teltow zum nächsten Wechselpunkt fahren.

Dort verabschieden wir uns für eine Weile, denn die Supporter sind sehr hungrig und wollen in die Stadt zurück. Wir nehmen die S-Bahn, essen was beim Thai und fahren dann zu mir. Ich mache ein kleines Nickerchen, aber nur eine Stunde, denn ich bin noch einmal im Jahn-Stadion verabredet. Wieder ist die U-Bahn voller Partypeople. Im Stadion sind Stachel und Karina auch gerade wieder eingetroffen. Es wird zwar noch dauern, bis Thoröö ankommt, aber zu dritt trinken wir Erdinger und bejubeln alle Finisher. Im Stadion brennt nur auf der gegenüberliegenden Seite Flutlicht und leuchtet in unsere Richtung. Vermutlich, damit es den Nachbarn nicht so grell in die Schlafzimmer scheint, aber so ist es ziemlich schummrig auf der Gegengerade, und die Läufer sind schwer zu erkennen, wenn sie die letzten Meter hinter sich bringen. Die Moderatorin verstehen wir auch nicht sehr gut, aber egal, Jubel haben alle verdient. Kurz nach eins läuft die erste Zweierstaffel ins Ziel, Team Karl-Friedrich. Die Startläuferin war mir schon in Hennigsdorf und beim Wechsel in Sacrow aufgefallen, eine ausgesprochen fröhliche junge Frau, die wirkte, als sei das alles ein Kinderspiel. Gegen halb zwei trifft die zweite 100-Meilen-Frau ein, Ursula Hotz aus der Schweiz, Wahnsinn, sie hat gerade mal neunzehneinhalb Stunden gebraucht.

Der Liveticker funkt die Zwischenzeiten nur von jedem zweiten VP, ach deshalb dauert das immer so lang bis zum nächsten Update, und dann gibt es plötzlich zwei Werte. Thoröö ist am Checkpoint Charly, er hat noch acht Kilometer vor sich, wir stärken uns derweil mit Stullen. Eine SMS meldet, dass es unserem Schlussläufer nicht mehr leicht fällt. Wir schicken gute Wünsche in die Nacht. Kurz nach halb drei hat Olly es geschafft, sein Ziel waren 23:59 gewesen (wegen der Gürtelschnalle), tatsächlich war er dreieinhalb Stunden schneller, das ist unglaublich toll. Wenige Minuten später ist auch Thoröö da, Karina rennt die ganze Stadionrunde mit, stachel und ich nur die letzten paar Meter. Geschafft, die Mauerwegsteinläuse sind im Ziel! Viele sind noch auf der Strecke, ich bewundere jede und jeden von ihnen zutiefst für dieses unvorstellbare Durchhaltevermögen. Wir machen uns erstmal auf den Heimweg, denn in wenigen Stunden ist Siegerehrung, da muss noch ein letztes Mal gejubelt werden. Liebe Steinläuse, Ihr wart ein Spitzenteam, vielen Dank für den sehr schönen Tag!

Verdammt: Knie ist doch nicht hypochondrisch – oder doch?

Menno, so geht das nicht! Am Mittwoch habe ich (nach Kniebeschwerden am Sonntag und Dienstag) ganz brav das Firmenevent b2run ausfallen lassen, Donnerstag sachte probiert: nach 10km – Aua rechts außen, aber so, dass ich zu Ende laufen konnte. Gestern zum Physio (ok, der Läufer war nicht da, aber sein Kollege), der hat überall rumgedrückt und gezogen und ein wenig „mobilisiert“ und befand, da ist nur ein bisschen mehr Spannung auf dem rechten Bein, vermutlich etwas überlastet, kaputt ist nix. Grünes Tape ans Bein, weiterlaufen. War natürlich genau, was ich hören wollte. Heute nach 6km: fies Aua! Aber viel weiter war sowieso nicht geplant. Jetzt nach dem Dehnen ist beim Gehen nichts mehr zu spüren. Was soll das?

UND JETZT??? Morgen wollte ich doch noch lockere 20kmchen laufen, dann noch ein paar kleine Läufe die Woche – bin schließlich bekennend planversessen. Aber selbst wenn ich morgen die 20 weglasse? Was dann? Noch mal versuchen, den Läuferphysiokollegen zu erwischen? Dehnen? Wie denn? Die Woche über die Füße ganz stillhalten? Ich beiße gleich in den Tisch!