Der Tag beginnt in der Pension Spreewald-Idyll in Lübbenau nicht um 7:00 mit dem Wecker, sondern um 6:00 mit einem Höllenradau auf dem Flur. Die Wirtin hatte erzählt, dass außer uns Angler im Haus sind, die ganz früh frühstücken möchten. ANGLER??? Das sollen doch ruhige Leute sein? Sie brüllen sich minutenlang Dinge über den Flur zu, bis ich nicht nur wach, sondern stinkwütend bin, die Tür aufreiße und in nur halb zurechnungsfähigem Zustand und breitestem Schwäbisch hinaus fauche, sie sollen nicht so ein Gschrei machen. Daraufhin ändert sich der Lärm dahingehend, dass immer mehrere Stimmen brüllen, und eine dann „Psssst!!!“ macht. Toller Erfolg.
Eine Stunde später frühstücken wir selber. Vom Idyll sind es nur wenige Meter bis zum Start. Wir wollen mal gucken, uns danach umziehen und selber loslaufen. Die Sonne scheint von knallblauem Himmel, die Gurkenmedaillen hängen schon am Zieleinlauf bereit und der Moderator geht seiner bewundernswerten Aufgabe nach (wie schafft der Mann das nur, einen guten halben Tag lang unaufhörlich zu sabbeln?) und kündigt Wanderer und den Spielmannszug an.
Nach den Wanderern kommen die Kinder, erst Mädels, dann Jungs, dann sind wir mit dem Biosphären-Halbmarathon dran. Ich bin überhaupt nicht aufgeregt, denn für mich wird es ein lockerer Spaßlauf. Ich bin der falsche Hase (der echte läuft morgen in Potsdam) auf dem ersten Halbmarathon meines Igels, der neulich in Berlin noch der Supporter war. Komisch dann, dass ich vier Minuten vor dem Start bemerke, dass ich die Garmine im Spreewald-Idyll vergessen habe. Kurzer Spurt zum Einlaufen, und schon bin ich wieder im Startblock. Wie ich es dann geschafft habe, mir den Bügel meiner Brille aus dem Scharnier zu hauen, weiß ich auch nicht. Eigentlich geht der ganz leicht wieder rein, aber ich bin so zittrig, weil ich befürchte den Start zu verpassen, dass es erst mehrfach misslingt. Dann sitzt die Brille wieder auf der Nase (ich bin ohne ein Blindfisch!) und schon wird „Auf die Gurke, fertig, los!“ gestartet.
Heute ist definitiv der schönste Frühlingstag des Jahres, wir laufen entspannt los, aus Lübbenau hinaus, scherzen ein wenig mit den Mitläuferinnen. Da gibt es ziemlich viele Laufbienchen aus dem Spreewald, die schwarzgelb gestreift mit Flügelchen auf dem Rücken und Puschelfühlern auf dem Kopf laufen. Drei große Kerle fallen durch ihre Kostüme auf, rosa Ballettröckchen, Seppelhosen und geringelter Matroseneinteiler. Sie überholen uns, aber das macht ja nichts. Ein Shirt bringt mich ein wenig ins Grübeln, darauf steht “Möpse und Motoren – a biker’s work is never done”. Meint der Mann die eigenen? Aber mehr als Körbchengröße B bringt er trotz deutlich krafttrainiertem Oberkörper eigentlich nicht zuwege. Oder lässt er seinen Ofen bei einem Werkstatt-Kollektiv von coolen Schrauberinnen warten und läuft für die Werbung?
Eine junge Frau läuft dicht hinter mir, ich frage, ob sie überholen möchte, aber sie möchte gar nicht. Unser Tempo gefällt ihr gut und sie läuft eine Weile mit uns. Irgendwann ist sie wieder weg.
Am ersten Verpflegungsstand sind wir total überrascht. Sowas habe ich noch nie gesehen: Nicht nur Tee und Wasser, auch Salzbrezeln, Müsliriegel, Schmalzstullen… Leute, wir laufen doch nur 21 km! Alles ist so liebevoll angerichtet, ich bin ganz gerührt. Es gibt sogar große Wannen mit Wasser und gelben Schwämmen. Schon jetzt habe ich den Wunsch nächstes Jahr wieder hier zu laufen, auch wenn mir im Moment ein Becher Wasser reicht.
Ungefähr bei Kilometer sechs ist die junge Frau wieder da. Wenn wir sowieso wieder gemeinsam laufen, können wir uns auch vorstellen. Angenehm: falscher Hase, Igel. Es ist auch ihr erster HM. Sie kommt aus Heidelberg, ihre Freundin, die auch laufen wollte, kann leider nicht. Von da an habe ich zwei Igel und nehme mir vor, sie heil ins Ziel zu bringen und dabei gut zu unterhalten (habe da ja ein großes Vorbild). Gelegentlich überholen wir Wanderer, die ja vor uns gestartet sind. Eine Gruppe fröhlicher Frauen bejubelt alle Läuferinnen und Läufer, die vorbei ziehen. Wir jubeln zurück, danke, ihr seid super! Immer wieder mal steht Publikum an der Strecke, das uns anfeuert. Unter einer Brücke fährt gerade ein Spreewaldkahn durch – wir fordern sie auf, auch ein wenig zu jubeln, und auch, wenn die Spreewaldtouristen vielleicht nicht so ganz genau wissen, was wir da tun, klatschen sie brav.
Kurz vor Kilometer 14 holen wir die drei Jungs in Kostümen wieder ein. Sie singen! Am schönsten ist es, wenn sie Walker überholen und dabei „I’m walking on sunshine!” singen. Bei jedem Kilometerschild zählen sie runter: noch sieben Lieder, noch sechs Lieder… Inzwischen besteht der Weg aus schmalen Betonplatten, die sind nicht ganz ideal zu laufen, man muss etwas aufpassen, nicht über die niedrigen Schwellen zu stolpern. Wir laufen etwas schneller und eine Weile ziehen die Kostümierten mit. Dann reicht die Puste aber wohl doch nicht mehr zum Singen und Beschleunigen – bin sowieso total beeindruckt, wie sie das machen.
Wir erreichen den tollsten Verpflegungspunkt von allen, am Wirtshaus Wotschofska gibt es außer Wasser und Tee eine sensationelle Auswahl an Essbarem. Spreewaldgurken! Ich liebe Gurken und nehme mir gleich zwei Stücke – lecker! Kurz frage ich mich, wie sich wohl saure Gurke auf Läuferinnenmagen macht, aber es schmeckt einfach köstlich und ist sehr erfrischend.
Die Igel sehen immer noch sehr gut aus, sie schnaufen zwar ein wenig, laufen aber noch recht locker. Drei Kilometer vor Schluss fordere ich – im Gedenken an meinen eigenen Lieblingshasen – auf, das Quatschen einzustellen und noch ein paar in der Dynamik schwer nachlassende Mitläufer einzusammeln. Die adoptierte Igelin will uns voraus schicken, aber das geht jetzt nicht mehr. Nachdem wir so lange gemeinsam gelaufen sind, beenden wir das hier jetzt auch gemeinsam. Dafür muss sie sich jetzt noch ein bisschen antreiben lassen – und das macht sie dann auch, ohne sich weiter zu zieren. Die Holztreppenbrücken über die vielen Fließe werden langsam etwas lästig, aber gleich sind wir da. Hinter der letzten Brücke steht die Freundin der Igelin und läuft die letzten hundert Meter mit in Richtung Ziel. Nach 2:16 oder 2:17 überqueren wir zu dritt die Ziellinie, bekommen diese tolle Gurkenmedaille umgehängt und landen wieder im Verpflegungsparadies. Schmalzstullen, Gurken, Kuchen, Bananen, Äpfel, Salzbrezeln, Cola, Wasser, Tee – und weiter hinten auch alkfreies Bier. Hier sponsort Krombacher. Auf den Lauf müssen wir erstmal anstoßen.
Die Sonne scheint, es ist ganz bestimmt der schönste Frühlingstag des Jahres. Hier möchte ich wieder laufen.