Laufen auf Reisen – Höhen- und Feinstaubtraining

Vor dem Schlafengehen haben wir diskutiert: kann man wirklich überall laufen? Ich glaube schon, und habe die Idee, von hier aus loszulaufen, was B. und H. vollkommen abwegig finden. Der Verkehr, der Smog, das Gedränge. Ich mag ja urbane Läufe und finde es toll, eine Stadt zu Fuß zu erforschen, aber die beiden halten das für unmöglich und H. bietet sogar an, nochmal nach Entoto rauszufahren. Aber ich möchte auch die Stadt kennen lernen und außerdem nicht zu viele Umstände machen. Irgendwann kommen sie auf folgende Idee: H. muss zu seiner Metallwerkstatt, die ihm schon den tollen Bullcatcher an seinen Landrover geschweißt hat, wir bringen den Kurzen in den Kindergarten, dann kann ich an der Embassy Road entlang zwischen zwei großen Kreisverkehren so lange hin und her laufen, bis es mir reicht. Die Embassy Road ist immerhin ein bisschen Richtung Stadtrand gelegen, und nicht ganz so verstopft wie die großen Straßen hier in der Umgebung.

So machen wir es, der Kleine wird im deutschen Kindergarten abgeliefert, und wir fahren in die Werkstatt. H. fährt auf dem Weg dorthin die Embassy Road entlang und guckt auf den Tacho, wie lang sie eigentlich ist. Ca. zweieinhalb Kilometer. Das Wasser bleibt im Auto, ich werde nach der ersten Runde einen Verpflegungsstop einlegen.

An der Embassy Road sind nicht nur die Botschaftsgelände von Uganda, Belgien, Kenia, Großbritannien, Russland, das British Council und das Institute for Biodiversity, sondern dazwischen auch viele kleine Geschäfte und Werkstätten, Haltestellen für Minibusse, Schuhputzer und was weiß ich alles. Prima, so mag ich Tourismus: die Leute denken, sie hätten was zu gucken, dass da eine Auswärtige an der Hauptverkehrsstraße entlang rennt, dabei werden sie selber auch beguckt, ohne es richtig zu bemerken. So haben alle was davon. Das heißt natürlich auch, dass ich keine Kamera mitnehme, auch wenn ich tausend mögliche Bilder sehen werde. Aber so ist das eben, dann muss ich umso genauer hinschauen, um sie später im Kopf wieder zu finden.

Schon die Metallwerkstatt ist toll, da liegt unglaublich viel Schrott herum, aber die Jungs machen richtig gute Sachen daraus, und das Zubehör, das sie für Halwards Auto gebastelt haben, ist nach dem Biegen, Schweißen und Anmalen gar nicht mehr als Ex-Schrott oder Recycling zu erkennen. 

Ich laufe los. Gleich nebenan ist ein Sargmacher. Die Särge sind aus einfachen Brettern gezimmert, aber dann mit glitzerndem Brokatstoff in allen möglichen Farben bezogen. Schön. Außerdem gibt es bunten Grabschmuck. Gleich nebenan sind eine Möbelwerkstatt, dann ein Fleischer. Große Stücke vom Rind sehen ziemlich gut abgehangen aus. Als ich an einem Frisiersalon vorbei komme, merke ich erst, als ich schon fast vorbei bin, dass der Friseur, der noch nichts zu tun hat, im Takt meiner Schritte klatscht. Im Schatten der Botschaftsmauer von Uganda liegt eine ganze Herde Ziegen. Danach gibt es wieder Geschäfte. An einer Haltestelle für Minibusse – von denen gibt es unglaublich viele, sie sind unten blau, oben weiß, genau wie die Lada-Taxen – arbeiten viele Schuhputzer. Die Geschäfte gehen nicht schlecht, und ich bin erstaunt, dass die Leute sich nicht nur Lederschuhe, sondern auch Plastikturnschuhe und sogar Stoff-Chucks putzen lassen. Meine Laufschuhe wollen sie natürlich auch, aber das kommt nicht in Frage, die bleiben in Bewegung.

Die Britische Botschaft wünscht mit zwei riesigen Plakaten auf Englisch und Amharisch den äthiopischen Athleten „Good Luck“ für die olympischen Spiele in London. Wobei ich mich kurz frage, ob es vielleicht angebrachter wäre, „Viel Erfolg“ zu wünschen. Am besten wohl beides. Einer der Torwächter ruft mir „Very good“ zu.

Vor einem verschlossenen Eisentor stehen Mädels und Jungs in türkisfarbenen Schuluniformen. Die Blicke, die ich von einigen ernte, erinnern mich sehr an die von Berliner Teenies, die etwas unendlich albern finden. Andere schauen freundlich-interessiert. Ich laufe weiter bis zur Brücke über einen kleinen Fluss und kehre dort, kurz vor dem zweiten Kreisverkehr um. Unten ist eine Art Biergarten, dort wird Reggae gespielt. Gerade geht das Schultor auf, es ist neun Uhr, und die Schülerinnen und Schüler verschwinden schnell darin, noch bevor ich zum zweiten Mal vorbei bin. 

Der gesamte Weg ist ein langgestreckter Hügel, das heißt, es geht also erst einmal wieder bergauf. Über der Hügelkuppe ist die gelblichbraune Smogschicht zu erkennen. Aber das gilt noch als erträglich, denn in der Nacht hat es wieder geregnet, die Berge der Umgebung sind zu erkennen, das ist wohl nicht immer so. Dennoch finde ich den Anblick einigermaßen eklig. Andererseits nicht verwunderlich, bei dem, was aus vielen Auspuffen so in die Gegend geblasen wird. Keine Ahnung, ob es an der Höhe oder am Feinstaub liegt, die Lunge fiept jedenfalls wieder ganz schön vor Anstrengung.

Einige Leute erkennen mich auf dem Rückweg wieder und grüßen wie alte Bekannte: der Torwächter, der Friseur, der wieder klatscht, später der Sargmacher. Ein junger, extrem gutaussehnder Mann fängt laut an zu lachen „Hahaha, Tourist! Bravo, Bravo!“ Na besten Dank auch, ich erkenne Spott, wenn er mir so deutlich begegnet, aber echt mal, wenn Du mich für bekloppt hältst – da kenne ich noch ganz andere. Ein ganz alter Man versucht es auf Italienisch: „Bon giorno, forza, forza.“ bei ihm bin ich aber sicher, dass er es freundlich meint.

Nach einem kurzen Wasserstopp in der Metallwerkstatt, geht es auf die zweite Runde. Eigentlich würde ich gerne auch die Nebenstrasen erkunden, aber die meisten sind nur kurze, steile Stichstraßen, wenige hundert Meter lang, wenn überhaupt. An einer biege dennoch ab und laufe auf eine dieser runden Kirchen zu. Es geht steil bergauf, an beiden Seiten sind Stände mit Religionsbedarf, Heiligenbildchen, religiöse Musik und lustigerweise auch große bunte Brokatsonnenschirme. Keine Ahnung, weshalb es die ausgerechnet hier gibt, sie lösen aber einen akuten Habenwollen-Anfall aus. Egal, ich kann gerade keinen Schirm tragen, sie sind wahrscheinlich eh zu groß für meinen Koffer und die paar Birr, die ich in der Tasche habe, reichen bestimmt sowieso nicht. Ich widerstehe also dem Impuls einen Spontankauf zu tätigen und laufe weiter auf die Kirche zu. Auch hier wird das Tor von einem Uniformierten bewacht. Er versteht Englisch, zwar nicht so ganz, warum ich um die Kirche rennen will, aber er hat auch nichts dagegen. Einige Frauen fegen den Hof, sonst ist es ruhig und grün unter Eukalyptusbäumen. Ein Tor führt zu einem Friedhof, aber den lasse ich aus. Der Hof ist klein, schon bin ich um den Kirchenbau herum und kann es jetzt bergab auch mal ein bisschen laufen lassen. 

Also doch wieder Embassy Road. Auch die zweite Runde macht Spaß, es gibt Ähnliches wie vorher in Varianten zu sehen. Eine Ziegenherde wird jetzt in meine Richtung getrieben, die Tiere erschrecken ein bisschen, als ich überhole. An der Bushaltestelle steht ein Mann mit einer einzelnen Ziege. Damit sie nicht wegläuft, hält er ihr Vorderbein hoch, das sieht aus, als würden die beiden Hand in Hand auf den Bus warten. Der Wächter bei den Briten muss lachen, als ich zum dritten Mal vorbei komme, beim vierten Mal kündige ich an, dass es das jetzt war. Der Friseur ist inzwischen mit Kundschaft beschäftigt. Nach gut elf Kilometern in einer Stunde und neun Minuten bin ich wieder bei den Metallern und kann im Schatten ein bisschen ausruhen und ihnen dann noch eine Weile beim Arbeiten zuschauen.

Laufen auf Reisen – Höhentraining

Barbara und Halward sind wunderbar. Sie haben ein Herz für ihre laufende Besucherin und schlagen vor, nach dem Frühstück in den Entoto Natural Park zu fahren, damit sie mit dem Kleinen und den beiden Hunden spazieren und ich laufen gehen können. Es ist Sonntag, der Verkehr nicht allzu schlimm, es ist wie Kino, durch die erste afrikanische Stadt meines Lebens zu fahren. Noch irgendwie nicht ganz real. Und aufregend!

Von der Straße in die Berge gibt es Aussicht auf die Stadt. Halward parkt den Wagen und grummelt ein bisschen was von Schutzgelderpressung, denn er muss den kleinen Jungs Geld geben, damit sie aufs Auto aufpassen, wobei es außer ihnen selbst niemanden gibt, vor denen es beschützt werden müsste.

Ich trabe los. Wir sind auf 2600m Höhe. Dass ich das nicht gewohnt bin, merke ich schon daran, dass ich seit der Ankunft gestern Abend leichte Kopfschmerzen habe. Den Pulsgurt habe ich nicht dabei, aber das Herz klopft bis in die Ohren. Höhentraining nennt man das wohl. Ich soll einfach dem Weg folgen, und wenn ich genug habe, zurück kommen. Nach wenigen hundert Metern teilt sich der Weg. Links geht es weiter im Halbschatten des Eukalyptuswalds, rechts in weitem Bogen über eine große Wiese ins Tal. Ein paar Leute kommen entgegen, ich will nach dem Weg fragen. Englisch? Eher rudimentär. Der Mann fragt mich „Sport?“ „Yes, but which way is nice?“ Er hebt den Daumen „Good!“ Ich versuche zu erklären, dass dort hinten meine Freunde sind, und er ihnen bitte sagen soll, dass ich den linken Weg nehme. „Friends, yes, left.“ Na dann, vielleicht hätten wir doch eine Zeit ausmachen sollen.

Es hat geregnet, zwischen den duftenden Eukalyptusbäumen sprießt grünes Gras. Außerdem ist es schön da im Wald. Vielleicht war das einmal ein Fahrweg, er ist aber ziemlich vom Regen ausgewaschen, geradezu zerklüftet, hier kommt kein Fahrzeug durch. Die Erde ist wunderschön dunkelrot, dazwischen ist stellenweise der Untergrund felsig. Und wurzelig. Wie heißt das Gegenteil eines Erdrutsches? Ich meine, wenn nicht Erde auf die Straße rutscht, sondern die Straße wegrutscht, hat das einen Namen? Ein Pfad führt um die Abbruchstelle durch den Wald. Ein Mann in quietschgrünen Gummistiefeln treibt zwei Esel vor sich her. Ich schnaufe wie eine alte Lok, obwohl ich nur langsam trabe. Eine gute Viertelstunde soll reichen, dann müssen die anderen auch nicht so lange auf mich warten. Der Weg ist wellig, noch diesen Hügel hoch, dann kehre ich um. Eine ältere Frau kommt mir entgegen, sie hat ein traditionelles Kleid an und ein schön gewebtes Tuch um Kopf und Schultern geschlungen. Ich trabe an ihr vorbei, grüße freundlich, und wende wenige Meter weiter. Als ich wieder an ihr vorbei komme, lacht sie und läuft ebenfalls los, einige Meter neben mir her, dabei redet sie unaufhörlich auf mich ein. Ich verlangsame und wir gehen gemeinsam weiter – die Gehpause kann ich gut gebrauchen, und schließlich ist das meine erste Unterhaltung mit einer einheimischen Person, wenn ich die kurze von vorhin nicht mitzähle. Zumindest, wenn man nicht darauf besteht, dass bei einer Unterhaltung die Beteiligten eine gemeinsame Sprache sprechen sollten. Ich verstehe kein Wort amharisch, sie keines englisch. Das macht nichts, ich finde sie sehr sympathisch. Nach ein paar Minuten geben wir uns die Hand, sie drückt meine an ihre Wange und streicht mir mit der anderen über die Schulter. Ich sage „Bye-bye“, sie zu meiner Überraschung „Ciao“ – Hurra, ein gemeinsames Wort, begeistert rufe ich Ciao zurück und laufe wieder los. Sie ruft mir noch ein paar recht fröhlich klingende Sätze hinterher, aber soweit ist es mit meinem amharisch immer noch nicht her (B. erklärt mir später, dass das Wort Ciao tatsächlich seit der kurzen italienischen Besatzungszeit verwendet wird). Auf dem Rückweg geht es mehr abwärts als aufwärts, dennoch bin ich nach fünfeinhalb Kilometerchen ziemlich aus der Puste. Aber auch sehr zufrieden mit meinem ersten Lauferlebnis in der Fremde.

Intervalle am Dienstag

Wenn das der Herr Steffny wüsste, dass er hier eine Tradition begründet. Auf dem Plan stehen Intervalle, und weil ich so spät erst wieder ins Training eingestiegen bin, ist es der 2-Stunden-Plan, also 4 x 2000 m in 11:18 Minuten, macht, wenn ich ein bisschen kopfrechne eine Pace von 5:39. So lange Intervalle auf der Bahn? Ist das nicht schrecklich öd? Aber der Flughafen ist für nach Feierabend zu weit und der Volkspark zu klein, da kommen immer wieder Straßen, also Bahn. Nix auf die Ohren, denn heute will ich mitkriegen, was in meinem Kopf los ist.

Einlaufen zum Stadion Wilmersdorf. Es ist halb sieben, noch scheint die Sonne. Das ist schön. Ich bin traurig, weil meine Tante Luisle gestorben ist. Die Baden-Württemberger begraben extrem schnell – Freitag tot, Dienstag Beerdigung. Ich bin auch ein bisschen traurig, dass ich es nicht zur Beerdigung geschafft habe. Dem Onkel Josef muss es jetzt sehr schlecht gehen. Die ganze Verwandtschaft hat mein ganzes Leben lang voller Anerkennung und echt schwäbischem Understatement gesagt „D’r Josef – der mag sei Luisle“. Als Kind hat mich das Gerücht total fasziniert, dass die beiden nur eine Bettdecke benutzen sollen. Immer! Dabei war das Luisle keine einfache Person – aber eine gute. Und immer elegant gekleidet. Ich laufe die Forckenbeckstraße entlang und denke darüber nach, was ich noch von ihr weiß. Sie hatte Humor, einen ganz leisen, aber oft treffenden, und sie hat gerne gelacht. Sie war sehr krank. Gut, dass sie neulich bei der letzten Familienfeier noch dabei sein konnte, und dass ich sie noch einmal gesehen, gesprochen und umarmt habe.

Im Stadion bin ich sofort abgelenkt. Auf dem Rasen liegt eine Fußballmannschaft sternförmig mit den Köpfen zusammen und macht Liegestützen. Eine Minilaufgruppe mit Trainer ist auf der Bahn „Die Armbewegung bringt uns voran“ sagt der Trainer. Sofort bemühe auch ich mich, die Arme ordnungsgemäß zu schwingen. Nach einer halben Runde ist das Einlaufen schon zu Ende und ich beschleunige. 2km im Kreis ist echt öd. Ich vermisse mal wieder den Hasen, der mich immer so unterhaltsam gescheucht hat. Aber der darf gerade leider nicht laufen. *Seufz*. Nach dem ersten Intervall wechsele ich die Richtung, damit ich keinen Drehwurm bekomme und die Bahn sich gleichmäßiger abnutzt. Ich nehme die Außenbahn, die will sonst eh keiner. Mit ist langweilig. Ich denke daran, dass der Hase dann immer „mentale Härte“ gesagt hat, aber ich fühle mich gar nicht gehärtet. Ein bisschen unterhaltsam ist, dass mir jetzt alle entgegen kommen – so viele sind es aber auch wieder nicht. Am Rand des Rasens ist vielleicht der Mann, den Charlotte_York neulich gesehen hat: er läuft auf dem Gras, mal vorwärts, mal rückwärts, mal rechtsrum, mal linksrum, und dazwischen macht er Übungen: Liegestützen, Crunches, Purzelbäume. Purzelbäume? Wozu die wohl gut sind?

Beim letzten Intervall gerät mir irgendwann wieder mal ein Mantra in den Kopf, das geht so: im Rhythmus des Dreier-Atems zähle ich einen seeehr langen Countdown: „vier-mal-rum“ – pff-ff-ff – „vier-mal-rum“ – pff-ff-ff. Dann: „drei-ein-halb“ – pff-ff-ff – „drei-ein-halb“… Immer, wenn auf der Uhr ein Vielfaches von 200 m steht, darf ich eine Stufe weiter runterzählen. Das funktioniert erstaunlich gut, das letzte Intervall ist recht schnell vorbei.

Und jetzt was merkwürdiges: Entweder ich kann überhaupt nicht gleichmäßig laufen (jaha, ziemlich wahrscheinlich), oder ich kann im Uhrzeigersinn schneller als dagegen (das ist natürlich die Pace, nicht die Zeit fürs ganze Intervall!):
5:32 (gegen Uhrzeigersinn)
5:17 (Uhrzeigersinn)
5:29 (gegen Uhrzeigersinn)
5:13 (Uhrzeigersinn)
Vielleicht bin ich auch eine heimliche tibetische Buddhistin, denn die wandeln doch immer um alles im Uhrzeigersinn herum. Allerdings rennen die dabei eher nicht, und es sind auch eher Tempel und andere Heiligtümer, keine Sportplätze.

Erst auf dem Rückweg kommen wieder Gedanken an andere Dinge als Laufen. Es hat nicht wirklich „geholfen“, ich bin immer noch traurig. Aber andererseits wäre es noch viel trauriger, wenn es keinen Grund gäbe traurig zu sein.

Abgrund Großstadt

Wie die warnende Stimme des geschätzten @Eifelsteiger schon oft hat verlauten lassen: für Läuferinnen und Läufer ist die Hauptstadt ein Abgrund, ein Grauen ohnegleichen. Auf meinem heutigen langen Lauf hatte ich seine warnende Stimme immer wieder im Ohr, so dass ich bereits beim ersten Anblick einer müllübersäten Parkwiese beschloss, ihm diesen Lauf zu widmen. Doch ich greife vor.

Der Tag beginnt mit einem leicht verkaterten Kopf – die Großstädterin musste gestern Abend eine liebe Freundin für längere Zeit ins Ausland verabschieden. Da die Stadt keine Sperrstunde kennt, muss sie im Nachhinein reuig bekennen: das letzte Bier war zu viel. Auf dem Land wäre das bestimmt nicht passiert. Mehrere Stunden nach einem nicht ganz lauftauglichen Frühstück mit zu wenig Brot und zu viel Käse, beschließe ich dann doch, mich in Laufmontur in diesen grässlich blendenden Frühlingssonnenschein zu wagen. Ein wenig flau im Magen ist mir noch.

Als degenerierte Großstädterin muss ich mich vor dem tosenden Lärm der Stadt mit Musik auf den Ohren schützen. Jedem Laufpuristen muss sich bei dieser Vorstellung, das vogelgezwitscherverwöhnte Trommelfell in schmerzhafte Falten legen. Doch uns macht das nichts aus, wir kennen es ja nicht anders. Die erste größere Menschenansammlung ist im Volkspark Wilmersdorf zu durchqueren. Die Massen belagern die Wiesen, als hätten sie kein Zuhause. Kein Hälmchen ist zwischen den dicht an dicht lagernden Städtern zu sehen, dort, wo doch einmal brauner Untergrund zwischen den Leibern zu erkennen ist, haben die Erholungssuchenden diesen mit weggeworfenem Papier, Flaschen und Zigarettenstummeln fast vollständig bedeckt.

Schnell lasse ich den Park hinter mir, um über die Dominicusstraße Richtung Gasometer zu laufen. Hier stört kein Baum und kein Strauch die urbane Atmosphäre von Billigläden, Eckkneipen (mehr als Ecken!) und Spielhallen. Die erhabene Stahlarchitektur des Schöneberger Gasometers lässt fast vergessen, dass da auch noch ein paar armselige, noch blattlose Pappeln drum herum stehen. Eine weitere baumlose Ostwestachse, die Monumentenstraße lässt mich schnell Richtung Osten vorankommen. Auf der Monumentenbrücke sind alle halbrunden Betonpoller inzwischen mit bunten Graffiti verziert (hier falle ich kurz aus der sarkastischen Rolle: die sind wirklich gut, zum Teil lustig und wirklich künstlerisch wertvoll, schade, dass ich keine Kamera mit hatte) unten fahren ICE und S-Bahn, in nicht allzu weiter Ferne sind die Hochhäuser am Potsdamer Platz zu sehen. Kaum habe ich mich an diesem Anblick erfreut, muss ich mich für das nächste Frühlingsgrün wappnen: es geht durch den Viktoriapark. Glücklicherweise bin ich auch hier nicht alleine, sondern finde Verstärkung durch Massen von Kreuzbergern, die hier die Wiesen belagern. Die Großstädterin hat es eben gerne gesellig.

Nach dem Park vermeide ich die Bergmannstraße, denn dort sind die Gehwege von voll besetzten Tischen und Stühlen der vielen Gastronomiebetriebe so verstellt, dass ein Durchkommen vollkommen unmöglich wäre. Aber die Nebenstraßen sind wieder angenehm baumlos und gerade ausreichend bevölkert, um nicht zu vereinsamen. Am Südstern muss ich in den Volkspark Hasenheide einbiegen. Das Denkmal der Trümmerfrau steht im noch blumenlosen Beet, die Drogendealer drücken sich in den mit dichterem Gebüsch bewachsenen Ecken des Parks herum, aber bei so viel Betrieb im Park steht ihnen der Sinn offensichtlich nicht nach Kaltakquise, denn sie unterhalten sich gelangweilt und beachten die Flanierenden nicht. Anders als in den ersten beiden Parks, wird hier sowohl mehr gekickt, als auch tüchtig musiziert – die Trommeln, die von ein paar jungen Männern bearbeitet werden, übertönen die Musik in meinen Ohren.

Beim Überqueren einer Wiese macht ein kleiner Hund seinem Unmut über meine offensichtlich noch zu blassen Läuferinnenbeine Luft – er springt kläffend und zähnefletschend um mich herum. Als abgebrühte Großstadtjoggerin verlangsame ich den Schritt kein bisschen – eher verklage ich Herrchen bis aufs letzte Hemd, als wegen so einem Kläffer von meinem Weg und Tempo abzuweichen. So richtig gefährlich ist er offensichtlich nicht, denn ich komme ungebissen davon.

Durch den Oderstraßeneingang gelange ich aufs Tempelhofer Feld, den ehemaligen Flughafen Tempelhof. Das ist vermutlich der urbanste Park der Welt. Unendliche Weiten, unendliche Massen. Dort, wo das Grillen erlaubt ist, hängen dichte Rauchschwaden über dem Gelände. Darüber schweben bunte Drachen, der Rundweg außen herum erlebt die ersten Frühlingsstaus von SkaterInnen, RadlerInnen, LäuferInnen und SpaziergängerInnen. Vor den Klocontainern stehen lange Schlangen. Feige weiche ich dem Stau auf den Plattenweg aus, der etwas weiter innen um das Gelände verläuft.

Auch diesen Park lasse ich hinter mir, quere das samstäglich ausgestorbene Fliegerviertel (kein Wunder, dass hier keine Menschenseele zu sehen ist, die sind schließlich alle in den Parks, wie ich vorhin gesehen habe). Das Zufallsprogramm des MP3-Players spielt „Stadtaffe“ von Peter Fox – darüber muss ich wirklich lachen. Ich singe ein bisschen mit, sehr zum Befremden einiger Halbwüchsiger, die an einer Bushaltestelle vor dem Bahnhof Südkreuz abhängen. Ich spüre ihre verächtlichen Blicke im Nacken, als sie mir hinterher blicken, aber das stört mich nicht. Beim Überqueren der Autobahn atme ich tief ein, denn gleich danach steht mir wieder eine Grünanlage bevor.

Dort neckt sich ein junges Pärchen, spielerisch dreht er ihr den Arm auf den Rücken, bis sie vor Schmerz quiekt – lachend gibt er sie frei. Ich erwäge kurz, ihr den Rat zu geben, den Trottel in den Wind zu schießen, aber wozu einmischen, darauf kommt sie sicher schnell genug auch alleine.

Der Weg führt mich durch eine Kleingartenanlage – auch hier liegt bereits Grillrauch in der Luft – und dann unspektakulär und ohne weitere Vorkommnisse durch Friedenau bis zum Friedrich-Wilhelm-Platz. Hier dringt noch einmal ohrenbetäubender Lärm durch meine Lautsprecherstöpsel: Am Imbiss haben sie bereits die Biertische in den Vorgarten gestellt und auch einen Fernseher aufgebaut. Eben hat Hertha das 3:1 gegen Mainz geschossen, die versammelten Friedenauer kriegen sich nicht mehr ein vor Begeisterung. Ich halte kurz an, um die Wiederholung zu sehen. Das Bier fließt in Strömen, die Fans liegen sich in den Armen und weinen vor Glück. Ich laufe weiter, um mir an der Eisdiele ein dickes Belohnungseis mit Sahne zu holen. Dann darf ich endlich wieder in meine Höhle – äh: Wohnung – zurück.

Rein – raus – rein – raus

CeBIT 2012 – wir sind mit der Firma auf der Messe. Da ich normalerweise nicht mit muss, hatte ich keine Vorstellung davon, wie Beine sich nach einem Messetag anfühlen. Aber egal, nun habe ich schon die Kollegen motiviert, sich anzumelden und die Firma hat die Teilnahmegebühr gesponsert, nun bin ich schon mit Sonnenblume2 und Raudine zum Minijogmaptreffen verabredet, dann wird auch gelaufen. Außerdem ist Läuferin ja gut ausgestattet und kann schon den ganzen Messetag über Uschisocken tragen, das hilft bestimmt.

Am späten Nachmittag queren zwei Frauen in Sportklamotten den Stand und kommen direkt auf mich zu – das müssen Sonnenblume2 und Raudine sein, potentielle Kundinnen sehen irgendwie anders aus. Wie nett! Die Hostess bietet Getränke an, wir sitzen an einem Beratungstischchen und wie immer ist es ganz leicht, ins Plaudern zu kommen. Irgendwann ziehen die beiden weiter, die Kollegen und ich ziehen uns um und machen uns dann auch auf zum Start in Halle 22. Da steht ein asiatisch aussehender Franzose mit einer merkwürdigen Brille mit eingebauter Videokamera – die Brille verfolgt seine Augenbewegung, und er lädt uns ein, an seinen Stand zu kommen und die Aufzeichnung seines Laufs anzuschauen (habe ich heute gemacht, die Firma tobii macht supercoole Eyetracking-Software, echt klasse!). Die Kollegen sind alles alte Tiefstapler – ich sage, dass ich kein Tempotraining hatte und nur 6er-Pace laufen will. Einer tut noch, als hielte er das für schnell, es wird gefragt, ob wir gemeinsam laufen wollen, aber als der Startschuss fällt, rennen drei der vier los wie die Besemmelten, und nach wenigen hundert Metern merke ich auch ohne Uhr: das ist keine 6er Pace. Ich lasse mich zurückfallen und schicke den einen, der aus Höflichkeit noch neben mir bleibt, weiter – lauf mal, ich finde den Weg. Das lässt er sich auch nicht zweimal sagen, wusch, ist er weg.

Die Strecke geht direkt am eigenen Stand vorbei – schade, dass unsere Standparty gestern schon war. Immerhin stehen da noch Knopf13, der leider Knie hat und nicht mitlaufen kann, die aserbaidschanische Standwache und der Tontechniker und feuern mich frenetisch an. Auch noch auf der ersten Runde kommt Sonnenblume2 von hinten heran. Ich bleibe eine Weile dran, wir wechseln ein paar Worte – wie hier schon wahrheitsgetreu beschrieben, dann werde ich wieder etwas langsamer. Ich habe es nicht eilig, dies ist der erste Test nach Knie, da will ich vor allem nichts kaputt machen. Der Untergrund – mal Teppich, mal Beton, mal Asphalt – läuft sich eigentlich sehr prima.

Endlich sehe ich mal was von der Messe – ich war bisher fast nur am eigenen Stand. Es gibt die Sambaband, laute Standparties, anfeuernde Streckenposten, auf den späteren Runden Putzpersonal. Die Temperaturunterschiede zwischen drinnen und draußen sind enorm – zwar keine 30°, wie der Moderator mehrfach behauptet, aber 20° vielleicht schon. Raus ist übrigens angenehmer als rein, aber so schlimm sind die Wechsel gar nicht, nur halt bemerkenswert. Die kurzen Runden haben auch einen Vorteil – die ganz schnellen Läuferinnen und Läufer überrunden mich glaube ich ab meiner dritten Runde, so schnell, so elegant! Auf dem freien Platz in der Mitte steht ein Feuerwehrauto mit einem großen Scheinwerfer auf dem Dach, davor ein Feuerwehrmann, der von da oben Fotos macht. Der Schein des Werfers streift genau seinen blond gefärbten Stachelhaarschnitt, so dass es aussieht, als habe er eine glühende Bürste auf dem Kopf. Tolles Bild!
Dann geht auch noch der Vollmond auf, groß und gelb – Wow! Ich bin ganz ergriffen.

Auf der vierten Runde bekomme ich Seitenstechen – blöd, ich muss tatsächlich ein bisschen gehen und drücke mir die Finger in die Seite. In der Halle ist das echt peinlich, denn die feiernden Standbesatzungen sind nicht wirklich Läufer-Fachpublikum und haben wenig Verständnis für solche Schwächeleien. Ein Osteuropäer drückt mir ein Glas Bier in die Hand – ich kann mich gar nicht wehren. OK, ich nehme einen Schluck, er haut mir auf die Schulter und ruft „And now – you GO, GO, GO!!!“ Ich trabe an, und nach einer Weile kann ich wieder beschleunigen – ob’s am Bier lag? Ich beende die Runde gar nicht so viel langsamer als die ersten drei und biege dann nach 1:15:XX ins Ziel ein. Das hat Spaß gemacht!

Und hier ereilt mich noch eine Organisationsmissgeschick: ich bin ganz sicher, dass die Kollegen schon im Ziel auf mich warten. Hmm. Bei den Medaillen sind sie nicht. Auch nicht am Erdinger Stand und nicht im Pasta-Restaurant Insel. Komisch. Kurz frage ich mich, ob sie ohne mich zum Stand zurück gegangen sein könnten – aber eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen. Die müssen doch einfach vor lauter Begeisterung weiter gelaufen sein und den HM voll machen. Prima, dann kann ich ja noch Sonnenblume2 und Raudine zujubeln. Ich erwische die beiden am Ende ihrer fünften Runde – JUBEL!!! Ihr seid toll!!! – und auch, als sie nach ihren tollen Zeiten ins Ziel einlaufen. Nochmal Jubel und Gratulation. So schnell können meine Kollegen doch kaum sein, oder doch? Als das Ziel dann schließt, kurz vor der Siegerehrung gehe ich doch mal zur Rennleitung, um zu fragen, wie viele Runden die eigentlich gelaufen sind – ich erfahre: DREI. Huch! Da haben wir uns wohl verpasst. Ganz leicht verstimmt (aber nur ein bisschen, denn ich habe den Autoschlüssel), überlege ich, ob ich jetzt ganz alleine Pasta essen oder mal zum Stand in Halle 3 zurück gehe. Da kommt mir aber dann doch M. entgegen, der langsam doch ins Grübeln kam, wo ich abgeblieben sein könnte. Prima, dann gibt es jetzt eben noch Pasta.

P.S.: Schade – heute früh gab es auf der Website noch PDF-Urkunden und die Zeiten. Jetzt haben sie auf der Startseite die Streckenlänge von 3,5 km auf 3,25 km korrigiert, aber dafür sind die Ergebnisse nicht mehr online, nur die Rundenzeiten. Sonst war es aber eine klasse Veranstaltung.