Bis zum Gehöft oberhalb unseres Häuschens laufe ich heute ohne Gehpause durch. Gleich danach, wo der Feldweg beginnt, wird es mir zu steil. Außerdem will ich meine Kraft etwas einteilen, es ist noch weit. Also erstmal hoch bis zum Col de St. Véran, laufen, wo es geht, gehen, wenn es mir zu steil ist. So herum bin ich vorgestern die Tour von Sonntag noch einmal gelaufen. Das hat sich leichter angefühlt als beim ersten Mal – die kinetische Energie ist halt doch meine Freundin – hat aber genau gleich lange gedauert. Heute will ich vom Pass abwärts bis Rémuzat, dann über den Klettersteig wieder hoch auf den Rocher du Caire, von dort wie gehabt über den Geierparkplatz zurück.
Das erste Stück abwärts ist steil, der Untergrund trockener, bröseliger Waldboden mit einer Schicht Kiefernnadeln. Sowas kann ich auch nicht laufen. Nach ein paar hundert Metern wird es flacher. Der Weg führt teils durch Wald, teils durch offenes Gelände, leicht wellig insgesamt bergab. Mal kann ich laufen, dann wieder ist der Untergrund zu steinig, zu steil, zu sonstwas, dann gehe ich halt. Trailschuhe wären noch eine Option gewesen. Über mir die Steilwand, auf deren Kante ich letztens oben entlang gelaufen bin, wieder fliegen die Geier, so dass ich gelegentlich stehen bleiben und ihnen zuschauen muss. Großartig.
Vor mir höre ich Stimmen, eine Gruppe Wandersleute mit Stöcken kommt mir entgegen. Es sind dieselben, die ich neulich zum Geierparkplatz geschickt habe. Wir begrüßen uns freundlich, lachen über den Zufall und wünschen einander einen schönen Tag. Sie machen mir Platz, damit ich an ihnen vorbei komme.
Unten in Rémuzat überlege ich kurz, in der Bar am Platz einen kleinen Kaffee zu trinken, entscheide mich dann aber dagegen. Es wird auch so gehen. Das Extraschild am Wegweiser meldet, dass der Klettersteig nur von erfahrenen Wanderern und nur aufwärts begangen werden darf. Gut, dass ich mich für diese Laufrichtung entschieden habe. Zuerst führt der Weg noch ganz komfortabel an der Oule und nach der Mündung an der Eygues entlang (woher weiß ich, ob ein französischer Bach männlich oder weiblich ist, wenn er auf der Karte l‘Oule oder l‘Eygues heißt?).
Irgendwann geht es dann ernsthaft aufwärts, und zwar ca. vierhundert Höhenmeter auf einen Kilometer. An den steilsten Stellen ist ein Stahlseil als Handlauf gespannt. Tritthilfen aus in den Fels geschlagenem Armierungsstahl und eine Leiter helfen bergan. Dann wieder führt der Weg sehr bequem unter einem Überhang entlang und ist einfach nur schön.
Unten im Tal am Picknick-Parkplatz an der D94 stehen einige Polizisten, die Lastwagen rauswinken, um sie zu kontrollieren.
Blöd ist, dass ich leider nicht ganz so schwindelfrei bin, wie ich gerne wäre. Vor allem bei zunehmender Erschöpfung macht es mir ziemlich viel aus, einen Abgrund vor Augen zu haben. Offensichtlich ist die dafür ausreichende Ermüdung schon erreicht. Die Felsen sind wie eine riesige Treppe, nur sind die Stufen eher für eine Beinlänge von gut zwei Metern gedacht. Mithilfe der Hände ist es aber nicht wirklich schwierig, hier hoch zu klettern.
Mir fällt der Film im Haus der Geier unten in Rémuzat ein. Da wurde gezeigt, wie die Geier einen Steinschlag erkennen und gleich zur Stelle sind, wenn die kleine Gemse stürzt oder vom Felsen erschlagen wird. Das wurde nicht wirklich gezeigt, nur Schnitt auf kullernde Felsbrocken, Schnitt auf kleine Gemse, Schnitt auf große Gemse, Schnitt auf Geier, und das mehrfach wiederholt zu dramatischer Musik.
Ob ich, wenn ich jetzt hier runterstürze, als Geierfutter ende? Das wäre irgendwie passend für die Gegend. Nach unten schauen kann ich nur noch, wenn ich mich setze oder wenigstens anlehne. Trotzdem ist es toll. Ich denke an meinen bouldernden Kollegen, der es bestimmt super fände, so eine Passage in seiner Hauslaufstrecke zu haben.
Irgendwann habe ich es dann wirklich geschafft, ich komme auf dem Plateau Saint Laurent am Aushang des Bürgermeisteramts raus, der es verbietet, den Weg hinabzusteigen. Es ist noch ein kleines Stück zum Rocher du Caire. Meine Knie zittern noch ein wenig. Oben am Kreuz steht ein Vogelfreund mit einem gigantischen Teleobjektiv, der auf Geier wartet. Die sind heute sehr publikumsfreundlich und fliegen extra für uns wunderschöne Segelflugmanöver einzeln, zu zweit oder zu dritt. Es ist großartig, sie auch von oben sehen zu können.
Der Rückweg ist leider nicht so fluffig wie vorgestern, als ich das letzte Stück bergab quasi geflogen bin (für meine Verhältnisse). Ich habe plötzlich fieses Seitenstechen und überlege kurz, Titus anzurufen, damit der mich vom Geierparkplatz mit dem Auto abholt. Aber das geht natürlich nicht. Ich versuche wenigstens für die entgegenkommenden Spaziergängerinnen eine passable Figur abzugeben, und trabe ganz langsam die letzten beiden Kilometer zurück.
Nackte Zahlen: 12,9 km in 2:07 Stunden, Pace 9:55 min/km, Gesamtanstieg 728 m.